Flucht aus dem Harem
wünschte, wieder ein Kind zu sein, das den Kopf in den Kissen vergraben und seinen Tränen freien Lauf lassen könnte. Aber er war erwachsen und musste sich den Tatsachen stellen, so unerfreulich sie auch sein mochten. Niemand würde ihm dabei helfen, seinen Platz im Leben zu behaupten, und dieser Platz bestand nun mal nicht in einem Asyl im Gästezimmer, so sehr Edward ihn das auch glauben machen wollte.
Anthony Grenville, Justins Vater, war zum Zeitpunkt seines Todes Inhaber des Titels und Oberhaupt der Familie gewesen. Ihm allein hatte Beryll Hall gehört, der Familiensitz in Derbyshire und die Londoner Residenz, in der er sich gerade befand. Und da Justin sein einziger Sohn war, gehörte das alles jetzt ihm. Ihm und nicht Edward, Anthonys sechs Jahre jüngerem Bruder.
Die Truhe wurde gebracht, und Justin befahl den beiden Dienern, sie auf den Tisch zu stellen. Während er den Inhalt ausräumte, überlegte er, wie er sich beim Abendessen verhalten sollte. Sein Vorhaben, einen für beide Seiten annehmbaren Kompromiss zu finden, hatte sich angesichts von Edwards Willkommen, besser gesagt, dem nicht stattgefundenen Willkommen, zerschlagen. Von nun an würde es Auge um Auge, Zahn um Zahn gehen, davon war er überzeugt. Es war kein Irrtum oder eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen, die seinen Onkel daran gehindert hatten, das Lösegeld zu zahlen. Nein, Edward hatte sich selbst als Marquess of Wexford sehen wollen, weshalb er die Briefe des Paschas unbeantwortet gelassen hatte in der Hoffnung, sein Neffe würde entweder exekutiert werden oder elendig in seinem Verlies zugrunde gehen.
Justins Blick fiel auf den Ring an seinem kleinen Finger. Keine Frage, er musste seine Stellung gegenüber Edward schnell festigen, damit er sich den wirklich wichtigen Dingen zuwenden konnte. Und das Wichtigste für ihn war, Leila zu finden.
15
Leila spürte jeden Knochen in ihrem Leib. Der Kutscher hatte ihrem Befehl Folge geleistet und nur gehalten, um die Pferde zu wechseln oder eine Mahlzeit in einer der Poststationen oder in einem Landgasthof einzunehmen.
Sie waren bereits seit drei Tagen unterwegs. Leila fühlte sich schmutzig und erschöpft, und sie hatte keine Ahnung, wie lange das Geld, das sie Justin gestohlen hatte, reichen würde. Obwohl sie ihm im Austausch einen ihrer Ringe in die Börse gesteckt hatte, betrachtete sie ihre Tat dennoch als Diebstahl. Aber auf der Liste all ihrer Vergehen gehörte das wohl zu den lässlichen Sünden.. Sie versuchte, nicht an Justin zu denken und sich stattdessen auf die Zukunft zu konzentrieren, die ihr unsicherer erschien als jemals zuvor.
Die Kutsche hielt, und Leila blickte aus dem Fenster. Sie standen wieder vor einer Poststation, und der Fahrer stapfte gerade zum Gebäude.
Leila öffnete die Tür, um auszusteigen. Ihre Gelenke knackten unwirsch. Die Köpfschmerzen, die sie seit ihrer Abreise aus London begleiteten, verstärkten sich, als sie ins grelle Sonnenlicht trat. Sie hatte nur wenig geschlafen, immer wieder hatte sie das Gerüttel der Kutsche auf den holprigen Straßen geweckt.
Sie streckte die Arme über den Kopf, um die müden Glieder zu dehnen, und blickte sich um. Niemand war zu sehen. Also schlenderte auch sie zu dem kleinen Häuschen. Vielleicht schenkte man hier Apfelsaft oder gewässerten Wein aus. Hunger hatte sie keinen, aber ihre Kehle war so trocken wie die Landstraße.
Im einzigen Raum der Poststation standen einige Tische, der Kutscher lehnte an der Theke und sprach mit dem Postmeister. „Nach Hayden Manor sind es keine zehn Meilen mehr“, hörte sie ihn sagen.
Zehn Meilen. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Zehn Meilen. Dann war sie wieder zu Hause.
Der Kutscher nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug. „Haben Sie gehört, Mylady, wir sind noch vor Sonnenuntergang am Ziel.“
„Sehr schön“, antwortete Leila lahm. „Gibt es hier Apfelsaft?“
Der Postmeister nickte, wenig später stand ein irdener Becher vor Leila. Sie trank durstig. Der Kutscher zog einen Sessel zu ihrem Tisch und ließ sich darauf fallen. „Ich will hier trotzdem die Pferde wechseln. Wer weiß, ob sie bei meiner Rückfahrt noch verfügbar sind. Und in diesem gottverlassenen Winkel des Landes hält mich nichts.“
Nordcornwall als gottverlassenen Winkel zu bezeichnen, das hätte Leila früher allenfalls ein Lächeln entlockt. Sie hatte die sanften grünen Hügel geliebt, wie auch die felsigen Küsten, an denen sich das Meer mit weißen Schaumkronen brach. Als Kind hatte es
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