Flucht aus Oxford
gewöhnen wie an Geburten. Auch hier macht sicher die Übung den Meister. Trotzdem ist es nicht leicht, wenn es sich bei der Toten um eine junge Frau von – wie alt mochte sie gewesen sein? – zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig Jahren handelt. Und dann auch noch in dieser Ausstellungshalle! Alles wirkte irgendwie zu perfekt. Nirgendwo ein Stäubchen, nirgendwo schmutzige Fußspuren. Die Orientteppiche lagen auf dem Boden, als hätte man sie auf einer Bühne ausgebreitet. Und genau das war auch mein erster Gedanke – es kam mir alles völlig unwirklich vor. Als wäre man dabei, einen Film zu drehen oder ein Theaterstück zu inszenieren. Und die Gestalt, die dort mit ausgestreckten Beinen im Sessel lehnte, eine Hand fast auf dem Boden und in geradezu lächerlichen Schuhen – sie konnte doch nichts anderes als ein Requisit sein.«
»War es Ihnen möglich festzustellen, wie sie gestorben ist?«, fragte Roz.
»Soweit ich erkennen konnte, lagen weder ein Messer noch eine Pistole herum, und Blut habe ich auch keins gesehen. Sie war extrem blass und hatte einen etwas verkrusteten Mundwinkel. Es sah aus wie getrockneter Schaum.«
Alle drei schwiegen einen Moment und dachten darüber nach, was sich in der Scheune abgespielt haben mochte.
»Hört sich an, als wäre sie vielleicht vergiftet worden«, stellte Roz schließlich fest.
»Stimmt«, pflichtete Kate ihr bei. »Aber damit würde die Geschichte noch skurriler. Und unwahrscheinlich obendrein, vor allem unter den gegebenen Umständen. Jemand, der in eine Scheune verschleppt wird, wird erschossen, erstochen oder vielleicht erwürgt. Aber Gift? Es hätte im Voraus geplant werden müssen.«
»Aber auch ein Selbstmord kommt mir unwahrscheinlich vor«, fügte Tim hinzu. »Sie sah nicht aus, als wäre sie losgezogen, um sich das Leben zu nehmen. Im Gegenteil: In ihrem kurzen schwarzen Kleid wirkte sie eher, als wäre sie auf dem Weg in die Disco. Was um alles in der Welt hat sie in der Ausstellung gemacht? Diese Frage hat Hazel jedenfalls völlig zu Recht gestellt. Donna sah aus, als wollte sie mit ihrem Freund ausgehen; in diesem viktorianischen Sessel in Gatts Farm wirkte sie deplatziert.«
»Der Rabe«, sagte Kate plötzlich.
»Wie bitte?«
»Sie erzählte mir, dass sie ihren Freund ›den Raben‹ nennt. Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte?«
»Ich kenne niemanden, der so gerufen wird. Wissen Sie sonst noch etwas über ihn?«
»Sie sagte, er wäre Geschäftsmann, wobei ich mir ehrlich gesagt kein Bild machen kann, was sie damit meinte. Schließlich gibt es da eine Menge Interpretationsmöglichkeiten.«
»Rabe«, wiederholte Tim. Er dachte angestrengt nach.
»Schwarzes Haar, Pferdeschwanz, scharf geschnittenes Profil und sonnengebräunte Haut«, platzte Kate mit einem Mal heraus. »Das muss er sein. Er ist der einzig exotisch und wirklich gut aussehende Mann, den ich hier im Dorf zu Gesicht bekommen habe.«
»Ich glaube, die Beschreibung passt auf jemanden, den ich in der Menge vor Gatts Farm gesehen habe«, sagte Tim, strich sich das Haar glatt und wünschte, sein Profil sähe ein wenig exotischer aus.
»Einen Doppelgänger wird er wohl kaum haben.«
»Eher nicht. Er wirkte übrigens wie einer dieser obdachlosen Singles, die Vater Staat in die Wohnungen für alte Leute gesteckt hat.«
»Bitte noch mal zum Mitschreiben«, ließ sich Roz vernehmen. »Das habe ich nicht verstanden. Ihr beide habt doch jetzt nicht von einem Opa gesprochen, oder?«
»Die Stadtverwaltung hat in Broombanks Wohnungen für alte Menschen bauen lassen. Viel zu spät stellte man fest, dass die Senioren die Wohnungen nicht annahmen. Es gibt nämlich keine Busverbindung, und viele Rentner können sich kein eigenes Auto leisten.«
»Hätte man nicht Fahrgemeinschaften bilden können?«, fragte Kate.
»Wer möchte schon abhängig von seinen Mitbewohnern sein? Wie dem auch sei, mindestens ein halbes Dutzend Wohnungen stand schließlich leer. Für Familien waren sie zu klein, also hat man sie alleinstehenden Obdachlosen aus Oxford zugewiesen. Der junge Mann, den Sie beschrieben haben, sah aus, als könnte er einer von ihnen sein. Und zufällig wohnte Donna ebenfalls in einer dieser Wohnungen.«
»Was glauben Sie, womit er seinen Lebensunterhalt verdient?«, wollte Roz wissen.
»Keine Ahnung. Aber ›Geschäftsmann‹ kann alles Mögliche bedeuten, angefangen beim Drogenhandel bis hin zum Verkauf von selbst gemachtem Schmuck auf dem Wochenmarkt.«
»Den Herrn müssen wir uns
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