Flucht im Mondlicht
Fotoapparat und die dazugehörige Ausrüstung mitgebracht.
»Brauchst du ein anderes Objektiv?«, fragte sie.
»Nein, das hier ist hervorragend«, erwiderte Fadi und stellte das Stativ auf. Bei dem dämmrigen Licht musste er den Fotoapparat so ruhig wie möglich halten und eine längere Belichtungszeit wählen.
»Seid ihr bereit?«, rief Fadi dem Paar zu, das vor ihm saß.
»Ich denke schon, bachai «, erwiderte Dada.
Fadi hatte eine ganze Stunde gebraucht, um Onkel Amins betagte Eltern Dada und Abai zu überreden, für ihn zu posieren, aber schließlich hatten sie eingewilligt. Die Idee, Porträtaufnahmen zu machen, war ihm bei der Lektüre von Clive Murrays Biografie gekommen. Darin stand, dass Menschen die besten Motive waren, weil nicht s Menschen mehr faszinierte, als andere Menschen zu betrachten. Allerdings mussten Porträtaufnahmen Charakter und Gefühl zeigen, um den Betrachter anzusprechen. Abai und Dada hatten sehr charaktervolle Gesichter. Jede Runzel, Falte und Furche erzählte von Jahren der Liebe und Ehe, von Verlusten, Prüfungen und Kümmernissen. Ihre Gesichter waren Landkarten ihres Lebens.
Dada saß ein bisschen steif da und betrachtete stirnrunzelnd die Fotoausrüstung. Er trug traditionelle afghanische Kleidung und hatte eine leuchtend bunte Kappe auf dem fast kahlen Kopf. Abai saß neben ihm, in einen hauchdünnen weißen Schal eingehüllt, als versteckte sie sich vor der Kamera. Fadi hatte das Paar auf eine niedrige Bank im Schatten großer üppiger Rosenbüsche gesetzt. Er wusste, dass ein Fotoapparat mit grellem Weiß und tiefem Schwarz schlechter zurechtkam als das menschliche Auge. Die verschiedenen Grautöne, die die Schatten der Rosenbüsche erzeugten, konnte der Film besser aufnehmen. Fadi würde den Blitz benutzen, um die Gesichter seiner Modelle zu beleuchten.
»Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?«, fragte Anh.
»Nein, jetzt ist alles perfekt. Danke«, erwiderte Fadi. Er scheuchte die kleineren Kinder, die neugierig aus dem Haus gekommen waren, zur Schiebetür zurück. Fasziniert beobachteten sie das Treiben im Hintergarten, mit den Lutschern im Mund, die Fadi ihnen gegeben hatte, damit sie brav waren.
Er blickte durch den Sucher und nahm Abai und Dada ins Bild. Aber er wollte den Fehler vermeiden, den viele Fotografen machten, nämlich das Modell von Kopf bis Fuß zu fotografieren. Er wusste, dass bei einer Porträtaufnahme das Gesicht, besonders die Augen und der Mund, das Wichtigste war. Deshalb konzentrierte er sich auf die Köpfe von Abai und Dada und ging langsam rückwärts, bis er die beiden bis zu den Schultern im Bild hatte. Der Sucher suchte jede Linie in den Gesichtern von Abai und Dada, die die Geschichte ihres von Freud und Leid, von Mühsal und Glück erfüllten Lebens erzählte. Fadi drückte den Auslöser und machte etwa ein Dutzend Aufnahmen.
Etwas stimmt nicht , dachte er. Abai und Dada waren zu förmlich. Sie sahen aus, als fühlten sie sich unbehaglich, als wären sie lieber woanders. »Abai, Dada«, rief er. »Bitte versucht euch zu entspannen. Denkt an etwas Schönes, an etwas Lustiges vielleicht.«
Dada nickte und lächelte. Abai zog den Schal herunter, der ihren Mund verhüllt hatte, und blickte nervös in die Kamera. Fadi machte noch ein paar Aufnahmen. Die waren besser, aber nicht wirklich gut.
»Sahar«, rief er zu den Kindern hinüber. »Kannst du für Abai und Dada tanzen oder so was?«
Sahar blies die Backen auf und schüttelte den Kopf.
»Dann hole ich dir nachher bei Mr Singh ein Eis.«
Die Kinder sahen einander an und tuschelten. Fadi b lickte zum dunkler werdenden Himmel hinauf und trom melte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.
»Zwei Eis«, sagte Sahar.
Unverschämt , dachte Fadi, aber er willigte ein. Die Zeit lief ihm davon.
Die Kinder standen unter den Lampen und begannen wie Affen herumzuhampeln, zu kreischen und sich unter den Armen zu kratzen.
Abai und Dada lachten über ihr Gekasper und entspannten sich etwas.
Verdammt. Das ist immer noch nicht der Ausdruck, den ich haben will . Fadi fotografierte weiter. Zwischendurch legte er einen neuen Film ein. Als die sinkende Sonne den Horizont erreichte, machte er Schluss. Das war’s. Besser würde es nicht werden.
»Danke, Abai und Dada. Ich bin fertig«, rief er.
Erleichtert erhob sich das alte Ehepaar von der Bank. Dabei verfing sich Abais Schal in den Rosenbüschen. Dadas Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das seine kräftigen weißen Zähne entblößte.
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