Flucht in die Hoffnung
ernst genommen. Ein neues Lebensgefühl für ihn, obwohl ihm durchaus klar
war, dass er, was Karriere und Job betraf, ganz unten beginnen würde. Doch er
war jung und motiviert, extrem wissbegierig und bildungshungrig – und
überglücklich mit seinem Sohn und mir. An Heimweh litt Mohamed nicht. Nur ein
bisschen wärmer hätte es sein dürfen. Auch diesbezüglich waren wir einer
Meinung.
Ostern 2010 flog ich in den Ferien mit Elias erneut nach
Tunesien. Ich befürchtete, dass mein Sorgerecht erlöschen würde, wenn ich zu
lange nicht bei Emira wäre. Und ich wollte ihr natürlich in der kurzen Zeit,
die wir über Ostern miteinander verbringen würden, neuen Mut schenken und sie
beruhigen. Sie war nicht vergessen, es dauerte nur noch ein bisschen. »Wir tun,
was wir können, Emira! Halte durch!«
In Wirklichkeit war ich tief verzweifelt, denn ich wusste nicht, was
wir noch tun sollten. Nach wie vor leuchtete das rote Licht, wenn ich nach
Tunesien ein- oder ausreiste. Warum erlosch diese Blockade denn nie? Es gab
doch sonst auch für alles Fristen!
In diesem Urlaub kündigte ich meine Wohnung auf Djerba. Mohameds
Familie kümmerte sich später, als ich schon wieder in Deutschland war, um die
Möbel und brachte sie in die Wohnung seines Onkels in Toujane.
Das nächste Treffen mit Emira würde erst im Sommer stattfinden
können. Im Anschluss an unsere gemeinsame Zeit in den Bergen würden wir Urlaub
mit meiner Oma und Elias in einem Hotel auf Djerba machen. Wie gern wäre
Mohamed mitgekommen, doch er hatte inzwischen eine Arbeit in Deutschland
gefunden und würde deshalb in Velbert bleiben müssen. Bei der ersten Bewerbung
schon hatte es für ihn in der Gastronomie geklappt; ein Anfang war gemacht.
Im August landete ich auf Djerba und hatte die üblichen Probleme an
der Grenze. Diesmal nahm ich mir fest vor, die Fassung zu bewahren, und wartete
geduldig, bis ich die unangenehme Prozedur durchlaufen hatte, die mein Pass
auslöste. Ich wurde behandelt wie eine Kriminelle. Wie lautete das Verbrechen,
das mir vorgeworfen wurde? Dass ich meine Tochter bei mir haben wollte?
Bei Farid wartete Emira sehnsüchtig auf mich. Die Überprüfung meiner
Person und meines Gepäcks schien kein Ende zu nehmen. Telefonisch entschuldigte
ich mich bei ihr, weil ich mich verspäten würde, und bat dann ihren Vater,
schließlich steckte er hinter dieser Schikane: »Könntest du hier bitte mal
anrufen, um das Prozedere wegen der Blockade in meinem Pass zu verkürzen oder
diese Blockade aufzuheben?«
»Ich muss eilig zu einem Patienten, ein Notfall.«
Und weg war er.
Zehn Minuten später rief er wieder an und sagte mir, dass er Emira
in der Pizzeria Da Mario abgesetzt hätte.
Farid hatte sich nicht geändert.
Ich nahm ein Taxi zu der Pizzeria. Emira erkannte mich zuerst
gar nicht und ich sie auch nicht. Sie hatte sich verändert, blass und dünn war
sie geworden und wirkte zerbrechlich auf mich. Ihr Anblick erschütterte mich,
und ich hoffte inständig, dass es mir gelingen möge, sie wieder aufzupäppeln.
Wir fuhren zu Radhia und Fathi nach Houmt Souk, wo wir einige Tage blieben.
Emira schüttete ihr kleines Herz aus. Nazima und Farid hatten sich getrennt und
sehr viel gestritten.
»Das war schrecklich, Mama!«
Es war fast beängstigend, wie treffend sie ihren Vater imitieren
konnte. Wir lachten Tränen bei ihrer kleinen theatralischen Vorstellung, doch
eigentlich war es nicht lustig, denn es rührte an das Trauma meiner Tochter,
das sie selbst daheim erlitten hatte. Was hatte dieses kleine Mädchen schon
alles hinter sich, dachte ich traurig.
Der Koran spielte die Hauptrolle in Emiras Erzählungen. Emira wusste
genau, was haram war. Fast alles. Toll fand sie es,
wenn ihr Papa mit ihr Pizza essen ging, haram, und
mit Sandra telefonierte, haram! Letzteres hatte Emira
ganz locker bei Nazima fallen lassen, was diese wiederum gar nicht so toll
fand. Das tat Emira dann waaaahnsinnig leid. Aber Nazima band ihr das Kopftuch
immer so fest, »Da krieg ich gar keine Luft mehr, Mama!«
Sie verdrehte die Augen und streckte die Zunge raus, als würde sie gleich
ersticken. Ständig musste man beten und nur beten, erzählte sie, den ganzen Tag
»Allah akbar«.
Emira führte mir ein regelrechtes Theaterstück vor. Ich musste sehr
lachen. Woher nahm sie das? Jedenfalls war es ein gutes Zeichen, dass sie sich
lustig machte, so dachte ich, denn es zeigte mir, dass sie trotz ihres jungen
Alters wusste, wohin sie gehörte. Meine Tochter war ein
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