Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
Ein Brief aus Norwich! Wer wußte, daß sie... Darcey atmete innerlich auf. Margaret, dachte sie, Margaret hat endlich geschrieben. Wie lange hatte sie schon auf eine Antwort von Margaret gewartet! Wie hatte sie das vergessen können?
Darcey gab sich Mühe, nicht die Treppen hinaufzurennen. Es fiel ihr schwer, es nicht zu tun. Sie wollte wissen, was ihr Margaret schrieb und vor allen Dingen, weshalb sich ihre Freundin in all den Wochen zuvor nicht gemeldet hatte.
Der Brief lag auf ihrem Schreibtisch. Er war an Anabel Curtis gerichtet. Darcey erkannte sofort die Schrift ihrer Freundin. Sie zog sich Mantel und Handschuhe aus und legte ihren Hut ab. Mit dem Brieföffner schlitzte sie sorgfältig das Kuvert auf.
'Liebe Darcey, oder soll ich dich Anabel nennen?' schrieb ihre Freundin. 'Verzeih, daß ich mich solange nicht bei Dir gemeldet habe. Ich mußte erst mit mir und meinen Gedanken ins reine kommen. Einerseits freue ich mich für Dich, andererseits bereitet es mir Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie du so einfach die Identität einer Toten annehmen konntest. Ich habe meinen Schock darüber noch nicht ganz überwunden. Willst du nun bis an Dein seliges Ende Anabel Curtis bleiben? Verleugnest du damit nicht Deine Eltern?
Meine Patentante ist von ihrem Krankenbett aufgestanden. Sie läßt Dir ihre Grüße ausrichten und sagen, daß sie gern bereit ist, Deine Post auch weiterhin zu empfangen. Tante Heather konnte nie verstehen, daß man Dich mit Sir William verheiraten wollte und sie kann Deine Flucht vor dieser Ehe nur begrüßen.
Sir William hat Eure Verlobung inzwischen gelöst und sieht sich nach einer anderen bedauernswerten jungen Frau um, die sein Leben bis zu ihrem Tod teilen soll.'
Darcey mußte über Margarets Formulierung lachen. Auch sie hätte es nicht lange an der Seite dieses Mannes ausgehalten und vermutlich den Freitod gewählt, um ihm zu entkommen.
'Wir sind vor wenigen Tagen bei Deinem Onkel und Deiner Tante zu Gast gewesen. Gleich nach Deiner Flucht bin ich von allen Seiten mit Fragen nach Dir gequält worden und es ist mir nicht leichtgefallen, alle anzulügen. Inzwischen stellt niemand außer Alice mehr Fragen nach Dir. Deine Verwandten haben meine Eltern und mich gebeten, in ihrem Beisein Deinen Namen nicht mehr zu erwähnen.
Von mir gibt es nicht viel Neues zu berichten. Ich bin nach wie vor eine glückliche Braut und lebe eigentlich nur für die Stunden, in denen Pieter und ich zusammensein können. Wie sehr wünschte ich mir, wir müßten nicht noch Monate auf unsere Hochzeit warten.'
Darcey las Margarets Brief ein zweites und ein drittes Mal, bevor sie ihn das Kuvert zurücksteckte und in einer der Reisetaschen verbarg. Sie sagte sich, daß es besser sein würde, den Brief zu vernichten, brachte es jedoch nicht fertig. Immerhin war Margaret Thomson das letzte Bindeglied zu ihrem früheren Leben.
Sie beschloß, nach Elizabeth zu sehen. Als sie ins Dorf gefahren war, hatte die Kleine geschlafen. Mrs. Hill saß an Elizabeths Bett und las ihr vor. "Wenn Sie möchten, löse ich Sie ein wenig ab", sagte sie zu ihr.
"Ja, ich könnte eine Tasse Tee gebrauchen", erwiderte die Nanny. Im Laufe der Zeit hatte sie eingesehen, daß Darcey sie nicht aus Elizabeths Herzen verdrängen wollte.
"Muß ich noch lange im Bett bleiben, Miss Curtis?" fragte Elizabeth. "Mein Hals tut fast nicht mehr weh."
"Du hast heute morgen gehört, was Doktor Green gesagt hat", meinte Darcey. "Du darfst erst aufstehen, wenn du kein Fieber mehr hast. Wenn du zu früh aufstehst, kannst du sehr, sehr krank werden."
"So krank wie der arme kleine John?"
"Wer hat dir von John erzählt?" fragte Darcey. In der letzten Woche war ein kleiner Junge aus dem Dorf an einer schweren Lungenentzündung gestorben.
"Ich habe gehört, wie sich Mrs. Fletcher und Mrs. Hill darüber unterhalten haben", sagte Elizabeth.
"Nein, so krank wirst du nicht werden", versprach Darcey. Johns Eltern hatten kein Geld für einen Arzt gehabt. Als Lady Violette von Johns Krankheit erfahren hatte und Dr. Green gebeten hatte, nach dem Jungen zu sehen, war es schon zu spät gewesen.
"Hallo!" Lord Duncan steckte den Kopf in das Schlafzimmer seiner Nichte.
"Onkel Frederic!" Elizabeth streckte die Hände nach ihm aus. "Ich muß noch im Bett liegenbleiben."
"Ich habe davon gehört, Elizabeth." Der junge Lord beugte sich über seine Nichte und küßte sie auf die Wange. "Ich habe dir Orangenkekse mitgebracht. Sie werden dir bestimmt schmecken. Meine
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