Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
Schreiben versetzte sie für kurze Zeit in eine andere Welt, so daß sie der Realität wenigstens in Gedanken entfliehen konnte.
Als Ellen in die Halle trat, stieß sie fast mit Joshua Bradley zusammen, der hier, mit seinem Hut in der Hand, seit zwanzig Minuten darauf wartete, von ihrem Vater empfangen zu werden.
"Bitte verzeihen Sie, Lady Ellen", sagte er und neigte den Kopf.
"Ich muß um Entschuldigung bitten, Mister Bradley", widersprach das junge Mädchen. "Ich hätte darauf achten müssen, wohin ich gehe." Sie schaute ihm ins Gesicht. "Es freut mich, Sie zu sehen. Was führt Sie hierher?"
"Seine Lordschaft hat mich zu sich gebeten, Lady Ellen", antwortete Joshua. Er wagte nicht, Ellen anzuschauen, weil er befürchtete, jeder könnte erkennen, wieviel sie ihm bedeutete.
Es schickte sich für sie nicht, mehr als nur ein paar Worte mit dem Sohn des Gärtners zu sprechen, dennoch erkundigte sich Ellen nach seiner Mutter. Sie wollte einfach jede Minute, die sie mit Joshua verbringen konnte, festhalten. Es fiel ihr unendlich schwer, mit ihm so unpersönlich zu sprechen, statt sich in seine Arme zu werfen.
Der Butler kam aus dem Arbeitszimmer des Duke of Rowland. "Seine Lordschaft läßt bitten, Mister Bradley."
"Es hat mich gefreut, Sie zu sehen, Mister Bradley", sagte Ellen. "Bitte grüßen Sie Ihre Mutter von mir."
"Sie sind zu freundlich, Lady Ellen." Joshua neigte erneut den Kopf, bevor er dem Butler in das Arbeitszimmer des Herzogs folgte.
Ellen blieb noch einen Moment stehen und schaute auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte. Als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, träumte sie davon, daß Joshua gekommen war, um ihren Vater zu bitten, ihr den Hof machen zu dürfen. Und ihr Vater gestattete es ihm, sie zu besuchen. Sie sah sich mit Joshua unter einer der großen Kastanien im Park sitzen. Er hielt ein Buch in den Händen, aus dem er ihr vorlas...
In der Halle klappte eine Tür. Ellen blickte von der Galerie im ersten Stock nach unten. Sie sah Joshua Bradley zum Seiteneingang gehen. So sehr sie sich auch wünschte, er würde stehenbleiben und zu ihr hinaufschauen, er tat es nicht.
Lange hatte seine Unterredung mit ihrem Vater nicht gedauert. Sie fragte sich, weshalb ihr Vater den jungen Lehrer zu sich bestellt hatte. Einen Moment befürchtete sie, er könnte von ihren heimlichen Treffen am Strand erfahren haben, dann sagte sie sich, daß es nicht sein konnte. In diesem Fall hätte er zuerst einmal sie zu sich zitiert.
Ellen eilte zur Turmtreppe. Hastig lief sie die Stufen bis zum Söller hinauf. An die Zinnen gelehnt schaute sie Joshua nach, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Nie zuvor hatte sie sich sehnsüchtiger gewünscht, sich wie ein Vogel in die Luft erheben zu können, um dem Mann zu folgen, den sie liebte.
* * *
Zur Tradition auf Rowland Manor gehörte es, daß die Familie jeden Sonntag am Gottesdienst in der Dorfkirche teilnahm, die sich außerhalb von Rowland Village auf einem flachen Hügel erhob. Um die Kirche herum lag der Friedhof. Auf den meisten der alten Grabsteine konnte man kaum noch die Namen der Toten erkennen. Hinter der Kirche führte ein Weg zur Familiengruft der Ashburns. Als Kind hatte der Friedhof Ellen Angst eingeflößt. Jedesmal, wenn sie zum Gottesdienst gefahren waren, hatte sie sich auf dem Weg durch den Friedhof an ihre Gouvernante geschmiegt.
Heute machte der Friedhof ihr keine Angst mehr. Während sie den Hügel hinauffuhren, schaute sie aus dem Fenster der Kutsche zu den alten Grabsteinen. Vor einigen lagen frische Blumen. Weiter entfernt standen zwei Frauen vor einem frischen Grabhügel. In der letzten Woche war ein kleiner Junge an Schwindsucht gestorben, wie sie von Joshua wußte. Sie nahm an, daß es sich um sein Grab handelte.
Die Kutsche hielt in der Nähe der Kirche. Zuerst stiegen ihre Eltern aus, danach ihr Bruder und sie. In einem weiteren Wagen folgten die Gesellschafterinnen ihrer Mutter und ihrer Großmutter, sowie der Butler und die Hausdame. Das übrige Personal mußte den Hügel hinauflaufen.
Die Dorfbewohner, die sich vor der Kirche versammelt hatten, begrüßten sie ehrerbietig. Die Männer verneigten sich, die Frauen knicksten. Ellen suchte in der Menge nach Joshua, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Stumm folgte sie mit Simon ihren Eltern in die Kirche.
Erst nachdem sie in ihrer Bank seitlich des Altars Platz genommen hatten, füllte sich nach und nach die Kirche. Ellen sah wie Samuel und Kate Bradley, Joshuas
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