Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
hatten.
So oft es ging, flüchtete sie aus dem Trubel des Ballsaals in einen der angrenzenden Räume. Sie war müde und hatte heftige Kopfschmerzen. Ihr enges Korsett bereitete ihr Probleme. Je länger der Ball dauerte, um so unbarmherziger drückte es ihr die Brust zusammen. Das Atmen fiel ihr immer schwerer.
Als der Ball gegen Morgen endete und die Gäste abfuhren, schleppte sich Lady Ellen erschöpft zu ihrem Zimmer hinauf. Die Zofe ihrer Mutter half ihr beim Auskleiden. Endlich konnte sie sich von diesem entsetzlichen Korsett befreien und in ein weiches Nachthemd schlüpfen.
"Schlafen Sie gut, Lady Ellen", wünschte die Zofe und ging zur Tür.
"Sie auch, Mary." Ellen wartete, bis die Zofe das Zimmer verlassen hatte, dann stand sie auf und setzte sich auf die Fensterbank. Sie dachte an Joshua und fragte sich, wohin es ihn inzwischen verschlagen hatte. Weil sie keine Adresse von ihm hatte, konnte sie ihm auch nicht schreiben. Tief in Gedanken öffnete sie das Fenster und schickte ihm einen Kuß durch die Nacht.
* * *
Schon seit geraumer Zeit wurde es Ellen morgens übel, so auch an diesem Sonntag. Sie verzichtete darauf, zusammen mit ihren Eltern und Brüdern zu frühstücken und ließ sich nur eine Tasse Tee und trockenen Toast auf ihr Zimmer bringen. Das junge Mädchen machte sich weiter keine Gedanken über diese Übelkeit. Es schob sie auf den Kummer, den es hatte.
Als es Zeit für die Kirche wurde, schlüpfte Ellen in ihren Mantel, setzte sich den Hut auf und ging in die Halle hinunter, wo bereits ihre älteren Brüder warteten. Wenig später saß sie ihnen gegenüber in der Kutsche, die sie zum Gottesdienst brachte.
Ellen fühlte sich müde und zerschlagen. Sie wäre an diesem Morgen gern in ihrem Bett geblieben. Es fiel ihr schwer, dem Gottesdienst zu folgen. Erneut blickte sie zu den Bradleys. Ihr fiel auf, daß Kate Bradley nicht mehr so niedergeschlagen wirkte, wie noch vor einer Woche. Auch Samuel Bradley machte nicht mehr so einen düsteren Eindruck. Hatten sie von Joshua gehört?
Nach dem Gottesdienst verließen die Dörfler die Kirche und stellten sich draußen auf, um den Ashburns ihre Ehrerbietung zu erweisen und ihnen wie jeden Sonntag Glück und Segen zu wünschen.
Kate Bradley stand an diesem Sonntag ganz vorne. Als Ellen an ihr vorbeiging, spürte das junge Mädchen, wie sich blitzschnell etwas in ihre Hand schob. Geistesgegenwärtig steckte sie die Hand für einen Moment in ihre Manteltasche. Es fiel ihr schwer, sich nichts von ihrer Freude anmerken zu lassen. Joshua hatte ihr geschrieben! Bei dem auf Briefmarkengröße zusammengefalteten Papier, das ihr Kate Bradley in die Hand geschoben hatte, konnte es sich nur um einen Brief von ihm handeln.
Auf der Fahrt zum Herrenhaus bemühte sich Ellen, gleichgültig aus dem Fenster der Kutsche zu schauen. Sie war froh, daß ihre Brüder sie kaum beachteten. Sie sprachen über ein Polospiel, an dem sie sich am Nachmittag beteiligen wollten.
Kaum waren sie zu Hause angekommen, eilte Ellen zu ihrem Zimmer hinauf. Sie zog den Brief aus ihrer Manteltasche, warf den Mantel aufs Bett und setzte sich ans Fenster. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht! Joshua hatte ihr geschrieben!
Gleich nach dem Lunch suchte sie ihre Großmutter auf, um ihr von Joshuas Brief zu erzählen. Die guten Neuigkeiten, die sie von Joshua erfahren hatte, mußte sie mit jemanden teilen.
Lady Georgina schickte ihre Gesellschafterin und ihre Pflegerin zu einem Spaziergang in den Park, um ungestört mit ihrer Enkelin reden zu können. "Du strahlst ja förmlich, Ellen", meinte sie, als sie allein waren und bat das junge Mädchen, ihr ein weiteres Kissen hinter den Rücken zu stopfen, damit sie aufrechter sitzen konnte. "Was ist denn auf deinem ersten Ball so Aufregendes geschehen?" Sie zwinkerte ihr zu.
"Nichts, Großmama, über das es sich lohnen würde zu sprechen", erwiderte Ellen und erzählte ihr von dem Brief, den ihr Kate Bradley zugesteckt hatte. "Stell dir vor, Joshua ist in Schottland. In Bristol konnte er nur zwei Wochen bleiben, weil er seiner Tante und deren Familie nicht zur Last fallen wollte. Er hat vergeblich versucht, dort eine neue Stelle als Lehrer zu bekommen, doch ohne Empfehlungsschreiben war das aussichtslos."
"Das ist abzusehen gewesen", bemerkte Lady Georgina.
"Joshua hörte, daß in Blackburn Arbeiter in den Baumwollwebereien gesucht werden. Er wollte dort sein Glück versuchen. Um Geld zu sparen, hat er sich von Handwerkskarren und dergleichen
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