Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
Arkaden über zwei Stockwerke erstreckte, um die Gäste zu begrüßen. Unter ihnen befanden sich einige junge Mädchen, die genau wie Ellen an diesem Abend in die Gesellschaft eingeführt werden sollten.
Ellen war noch nicht oft in der großen Halle gewesen. Ihre Gouvernante hatte sie vor Jahren einmal hierher geführt. Gemeinsam hatten sie voller Ehrfurcht die Wandbilder betrachtet, die über ein Jahrtausend hinweg alle englischen Könige zeigten. An Hand der Ahnentafel, die die Wand unterhalb der Treppe zur Balustrade schmückte, hatte die Gouvernante ihr ihre eigene Herkunft erklärt.
An diesem Abend erstrahlte die große Halle im Glanz von Hunderten von Kerzen. Sie steckten in den Halterungen der großen Kristallüster, die von der hohen Decke herabhingen. Die Teppiche waren zusammengerollt und weggebracht worden. Tagelang hatten die Hausmädchen den hellen Fliesenboden so poliert, daß man sich fast in ihm spiegeln konnte. Entlang der Fensterfront standen hohe Grünpflanzen und Kübel mit Rosen. In den Nebenräumen der Halle, in die man durch die Arkaden gelangte, warteten Sessel, Sofas und Stühle darauf, von den älteren Leuten in Besitz genommen zu werden. Bedienstete in Livree und weißen Handschuhe boten Erfrischungen, winzige Sandwiches und Kuchen an.
Ellen war noch nie zuvor auf einem Ball gewesen. Minutenlang ließ sie sich von der Musik, den Lichtern und der Pracht der Ballroben mitreißen, bevor die Gedanken an Joshua zurückkehrten und sie sich zwingen mußte, nicht zu weinen. Woher sollte sie wissen, ob es ihm gutging? Das Geld, das sie ihm gegeben hatte, reichte zwar aus, um ihn eine ganze Weile nicht hungern zu lassen, aber er brauchte auch eine neue Arbeit und ein Dach über den Kopf.
Ihre Tanzkarte füllte sich schnell. Die jungen Herren, die von ihrer Mutter eingeladen worden waren, drängten sich regelrecht um sie. Sie alle waren von untadeliger Herkunft, höflich, galant und durchaus geistreich, dennoch gelang es keinem von ihnen, ihr Herz zu erobern. Während sie mit ihnen tanzte, dachte sie nur an Joshua und wünschte sich, von ihm in den Armen gehalten zu werden.
Sir Francis Morier, seine Gattin und sein Sohn Edward gehörten ebenfalls zu den Gästen auf Rowland Manor. Seit jenem Nachmittag, an dem Ellen mit Edward Morier spazierengegangen war, hatten sie sich nicht wiedergesehen. Sie fand den jungen Mann auch an diesem Abend nicht sympathischer als damals. Während sie miteinander tanzten, überschüttete er sie geradezu mit Komplimenten, doch keines von ihnen berührte ihr Herz.
"Würden Sie mir die Ehre erweisen, mit mir ein Glas Wein zu trinken, Lady Ellen?" fragte er, als die letzten Töne der Musik verklangen.
"Sehr gern, leider reicht dazu die Zeit nicht mehr", antwortete sie und schaffte es, ihre Stimme bedauernd klingen zu lassen. "Ich habe den nächsten Tanz Lord Gladstone versprochen." Sie wies auf einen etwa dreißigjährigen Mann, der sich ihnen näherte.
"Schade, zum Glück ist der Abend noch nicht zu Ende." Edward Morier neigte den Kopf und wandte sich seinen Eltern zu, die sich mit einem älteren Ehepaar unterhielten.
Die Gesellschaft des jungen Lords empfand Ellen als äußerst angenehm. Während sie mit ihm tanzte, sprach er von einer Reise nach Italien, die er im Frühsommer unternommen hatte. Es war ihm wichtig gewesen, Verona kennenzulernen, um mit eigenen Augen die Stadt zu sehen, in der Shakespeare Romeo und Julia hatte spielen lassen. Er fragte sie, ob sie das Stück kannte und freute sich, als sie es bejahte.
"Ich habe fast alle Stücke von Shakespeare gelesen", sagte Ellen, "und einige sogar gesehen. Romeo und Julia gehört dazu. Mrs. Morford, die Leiterin der Schule, die ich besucht habe, legt sehr viel Wert auf die musische Bildung ihrer Schülerinnen."
"Sie sind gern zur Schule gegangen, Lady Ellen?"
Das junge Mädchen nickte. "Ich habe mich in Silbury Castle sehr wohl gefühlt."
"Meine eigene Schulzeit ist mir nicht in so guter Erinnerung geblieben", gab Lord Gladstone zu. "Ich hatte sehr strenge Lehrer, die nicht viel dafür übrighatten, daß ich gerne Gedichte las und malte. Genauso wenig wie mein Vater übrigens. Seinem Wunsch entsprechend habe ich die militärische Laufbahn eingeschlagen, sehr glücklich macht sie mich nicht."
Ellen empfand es als reine Freude, sich mit Lord Gladstone zu unterhalten. Gern hätte sie den ganzen Abend mit ihm verbracht, doch das war ihr nicht möglich, da sich noch andere Herren in ihre Tanzkarte eingetragen
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