Flucht ins Ungewisse
unten! Sie klemmt irgendwo fest. Aber sie lebt, ist sogar bei Bewusstsein. Noch zumindest.“
Ich verschwendete keine weiteren Gedanken mehr, schlüpfte aus meinen Schuhen und sprang mit der Kleidung, die mich unweigerlich ertränken würde, ins Wasser.
Die Strömung war stark, trieb mich schneller ab, als ich erwartet hatte. Eigentlich war es ja schon pures Glück, dass ich mich nicht selbst an einem der Steinbrocken aufgespießt hatte. Mit aller Kraft bemühte ich mich vorwärtszukommen. Versuchte irgendwie oben von unten zu unterscheiden.
Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Sie brannten wegen der Kälte wie Höllenfeuer, jedoch konnte ich im ersten Moment rein gar nichts erkennen. Doch ich musste mich nur an die Dunkelheit gewöhnen. Nach und nach wurden unterschiedliche Konturen sichtbar. Ein riesiges Metallgestell – vielleicht von der naheliegenden Kläranlage – zog sich über die gesamte gegenüberliegende Seite des Flusses. Zuerst sah ich nur diese eisernen Rohre und Leitungen, aber ein hellerer Fleck störte in dem dunklen Gebilde.
Ich bewegte mich darauf zu und merkte schnell, dass es sich dabei um einen Menschen handelte.
Lora!
Mit beiden Händen stemmte sie sich gegen zwei Rohre, die – wie ich gleich darauf erkannte – ihren Fuß eingeklemmt hatten. Sie steckte fest und kam allein nicht frei. Immer wieder wurde sie von den Wassermassen von einer Richtung in die andere geschoben. Sie schwebte im Wasser wie ein festgebundener Luftdrache.
Offensichtlich wütend drosch sie mit der Faust auf das Rohr. Ihr anderer Arm schwebte beinah schon leblos neben ihrem Körper. Wahrscheinlich war sie verletzt.
Wie lange war sie schon da unten? War es denn nicht ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte?
Ich tauchte näher zu ihr – was einfacher klang, als es war –, bis ich ihre Schulter berühren konnte. Sie fuchtelte mit den Armen herum und drehte sich ein kleines Stück zu mir. Ich konnte nur ganz schwach erkennen, wie ihre Augen vor Schreck und Überraschung größer wurden. Von ihrem Arm zog sich eine Art dunkler Faden nach oben. War das Blut?
Wie ein in Panik geratenes Küken drückte sie ihre Arme gegen mich und versuchte mich wegzuschieben. Eine volle Ladung Luftblasen stieg aus ihrem Mund. Versuchte sie zu schreien?
Im Gegensatz zu mir durfte sie hier unten nichts erkennen können. Sie sah also nur einen dunklen Schatten vor sich. Kein Wunder, dass sie Angst hatte. Aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Wenn sie so weitermachte, würde sie in den nächsten paar Sekunden ersticken.
Ich packte ihre Arme und hielt sie fest. Ein starkes Gefühl erfüllte mich, als ich sie so festhielt. Für einen kurzen Moment war ich wie gelähmt.
Lora schien es jedoch nicht zu spüren, sie wehrte sich, schaffte es sogar, mir einmal ins Gesicht zu schlagen, als die Strömung sie mir in die Arme drückte. Doch der Schlag hatte nur die halbe Wirkung, da wir immer noch im Wasser waren.
Irgendwann hatte ich dann endlich ihre Hände fest im Griff und konnte einmal gegen eines der Rohre treten. Wie zu erwarten war, rührte es sich nicht vom Fleck. Egal wie oft ich es auch versuchte, es half nichts. Ich suchte nach Schwachstellen, einem losen Schrauben, nach irgendwas, damit ich ihren Fuß freibekam.
Lora zerrte leicht an ihren Händen, und als ich sie ansah, ließ sie wieder eine Portion Luft frei, die in Form einer weißen Wolke hochstieg.
Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte sie so gut wie keine Luft mehr übrig und ich hatte keinen Schimmer, wie ich ihren Fuß da rausholen sollte.
Obwohl ich es wirklich nur ungern tat, ließ ich sie los. Die Strömung war fast schon unerträglich stark. Dennoch konnte ich nach ein paar kräftigen Zügen wieder auftauchen. Ich sah Nick unruhig am Ufer stehen. Ich ignorierte seine besorgte Miene, den Baseballschläger, den er wie einen Polizeiknüppel in der Hand hielt. Ebenso seine Rufe, ob alles in Ordnung sei. Ich atmete ein paarmal tief durch, versuchte so viel Luft wie möglich zu halten und tauchte erneut zu Lora hinunter.
Sie presste ihre Hände mittlerweile fest gegen ihren Mund und krümmte sich. Ihre Lungen mussten bereits höllisch schmerzen.
Als ich wieder bei ihr war, nahm ich ihr die Hände vom Mund. Sie sah mich an und etwas von ihrer Anspannung löste sich, aber ich erkannte schnell, dass es nicht vor Erleichterung war. Sie war dabei, ihr Bewusstsein zu verlieren.
Ich zögerte keinen Augenblick mehr, wandte
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