Flucht nach Colorado
niemals genug Tage vergehen, damit ich Ihnen verzeihen könnte, was Sie mir antun." Sie hob die Hand und berührte ihre prickelnden Lippen, fassungslos darüber, dass er sie geküsst hatte. Und noch schlimmer, dass sie sich hatte küssen lassen. Wut kochte in ihr hoch. „Verdammt, Jordan."
Er grinste immer noch. Er war stolz auf sich! Ein Beben fuhr durch ihren Körper. Was für ein Kuss! Es hatte sich so angefühlt, als ob sie ihr Leben lang auf ihn gewartet hätte. Schon letzte Nacht hatte sie ihn gewollt, da hatte sich ihre Gegenwehr in der Dunkelheit aufgelöst.
Aber jetzt war ein neuer Tag, und sie hatte wieder mehr Kraft.
Vor allem kannte sie den Unterschied zwischen richtig und falsch. „Ich lasse es nicht zu, dass Sie aus mir eine Komplizin machen. Ich arbeite mit dem Sheriff zusammen. Ich bin nicht kriminell."
„Genauso wenig wie ich", sagte er nur. „Lassen Sie uns gehen."
Sie richtete ihren Rucksack und wuchtete ihn auf die Schultern. Letzte Nacht hatte sie tatsächlich das Gefühl gehabt, dass er unschuldig an dem Mord war. Letzte Nacht hatte sie ihm helfen wollen, auch wenn sie dafür das Gesetz brechen musste.
Aber sie hatte sich geirrt. Wie sollte durch eine illegale Flucht die Wahrheit bewiesen werden? Ob er den Mord begangen hatte oder nicht, hatte sie nicht zu entscheiden. Ein Gericht musste zu einem Urteil kommen, Jordan musste sich stellen.
Letzte Nacht hatte er behauptet, dass immer wieder unschuldige Menschen verurteilt würden, und vermutlich stimmte das auch. Das Rechtssystem war nicht unfehlbar, aber zumindest gab es ja auch die Möglichkeit, Berufung einzulegen. Auch wenn das Rechtssystem Mängel aufwies, so funktionierte es letztendlich doch. Emily glaubte an ihr Land und seine Werte. Das war ein Vermächtnis ihrer Familie. Sie hatte als kleines Mädchen immer vor der amerikanischen Flagge salutiert. Ihr Vater war als Patriot in Vietnam ums Leben gekommen, als er genau diese Art zu leben verteidigt hatte. Wenn sie nun also einem entlaufenen Sträfling half, dann beschmutzte sie sein Andenken. Das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Sie hatte immer versucht so zu leben, dass ihr Vater stolz auf sie gewesen wäre. Als Krankenschwester in der Notfall-Aufnahme hatte sie ununterbrochen darum gekämpft, Leben zu retten.
Sie riss sich zusammen. „Sie können nicht einfach selbst das Gesetz in die Hand nehmen."
„Fertig?" Er hielt ihr die Tür auf.
„Sie könnten sich stellen. Über das Funksprechgerät könnten wir die Suchtrupps informieren. Man wird es Ihnen anrechnen, wenn Sie die Bereitschaft zeigen, zu ..."
„Ich gehe nicht ins Gefängnis zurück."
Sein entschiedener Ton ließ keinen Raum für Kompromisse. Aber sie war von der Richtigkeit ihrer Ansicht mindestens ebenso überzeugt. Sie zerknitterte das Papier des Müsliriegels und beschloss, auch damit wieder eine Spur zu hinterlassen.
Als er das aufgewickelte Seil hervorholte, sagte sie: „Nicht die Leine. Nicht im Dunkeln, Jordan. Wir kommen schon bei Tageslicht nur schwer voran."
„In Ordnung", sagte er. „Ich vertraue Ihnen, dass Sie nicht versuchen werden, zu fliehen."
„Und wenn doch?"
Seine Augen wurden dunkel wie Anthrazit, als er sie daran erinnerte, dass er noch immer die Pistole hatte.
Sie folgte ihm nach draußen in die Kälte. Durch die Wipfel der Bäume sah sie den Mond tief am westlichen Himmel stehen. „Sie würden mich nicht erschießen."
„Fordern Sie mich nicht heraus", entgegnete er grimmig. „Ich werde alles tun, was nötig ist, um zu entkommen."
Sie verließen den ausgetrampelten Pfad, und sie ließ unauffällig die Verpackung des Müsliriegels fallen. Zusätzlich knickte sie auch noch einen tief hängenden Ast ab.
Pookie sah zu ihr hoch. Mit seinen treuen Welpenaugen schien er sie vorwurfsvoll anzublicken. Emily kämpfte gegen das Schuldgefühl, das in ihr hochkam, indem sie sich immer wieder sagte, dass sie das Richtige tat.
Gegen zehn Uhr, nachdem sie fünf Stunden marschiert waren, packte Jordan die reflektierende Decke weg. Sie hatten die ganze Zeit darauf geachtet, sich unter schützenden Bäumen fortzubewegen. An einer kleinen Anhöhe am Rande einer Lichtung blieb er stehen.
„Hier stimmt etwas nicht", sagte er.
Emily zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand. Den ganzen Weg lang hatte sie winzige Schnipsel fallen lassen. „Was soll denn nicht stimmen?"
Er zog das Fernglas aus ihrem Rucksack und suchte die Gegend ab. „Ich sehe niemanden, aber ich habe das Gefühl, als ob
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