Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
Vom Netzwerk:
Chinesisch. Dhondup grinst. Das muß er morgen seinen Schulkameraden erzählen. Er liebt es, wenn die anderen über ihn lachen. Dhamchoe hat ihm viele schlimme Chinesenwitze beigebracht. Aber die sind an der Schule strengstens verboten. Deshalb erzählt Dhondup sie den Kindern immer erst auf dem Nachhauseweg. Manche machen wegen Dhondups Chinesenwitzen sogar extra einen großen Schlenker.
    Heute war der Mittagsbus nach Lhasa an ihnen vorbeigerauscht und hatte eine dicke Staubwolke aufgewirbelt, die alle Kinder für einen Moment verschlang. Als sich der Staub allmählich auf ihre Schuluniformen und Taschen gelegt hatte, wäre das der beste Zeitpunkt für den Witz vom Engländer, dem Tibeter und dem Chinesen im Autobus gewesen. Aber Dhondup hatte die Pointe vergessen, und so mußte er den Kindern einen anderen Witz erzählen.
    »Ey, Dhamchoe«, flüstert er zum Bruder hinüber, der im Schein seiner Taschenlampe eine chinesische Illustrierte mit bunten Bildern von tollen Autos und schönen Filmschauspielerinnen durchblättert. Dhamchoe ist bald zwanzig Jahre alt. Genaugenommen ist er nicht wirklich Dhondups Bruder, sondern der Sohn einer armen Familie. Doch seit Dhondups richtiger Bruder ins Kloster gegangen ist, lebt Dhamchoe bei der Familie des Amchi und geht dem Vater in der Praxis zur Hand. Für Dhondup ist Dhamchoe ein guter Bruderersatz. Sie teilen sich das Bett und den Platz am Ofen. Und als Dhondup in die Schule kam, begleitete ihn Dhamchoe so lange, bis sein ›kleiner Bruder‹ genügend Freunde gefunden hatte, mit denen der lange Schulweg zum kurzweiligen Spaziergang wurde.
    »Wie geht noch mal der Witz vom Engländer, dem Tibeter und dem Chinesen im Bus?« fragt Dhondup, und Dhamchoe seufzt. Er kennt die Willensstärke seines kleinen Bruders. Dhondup auf morgen früh zu vertrösten hätte wenig Sinn.
    »Ein Inji, ein Tibeter und ein Chinese fahren im Bus. Der Inji fotografiert die Landschaft. Klick, Klick, Klick. Und als er fertig ist, schmeißt er seinen Fotoapparat einfach zum Fenster hinaus.«
    »Und warum tut er das?« fragt Dhondup, denn sonst funktioniert der Witz nicht.
    »Weil es in England ohnehin zu viele Fotoapparate gibt.«
    »Weiter«, drängt der Kleine.
    »Der Chinese zündet sich eine Zigarette an – Klack, Klack – und schmeißt den Rest der Packung einfach zum Fenser hinaus.«
    »Und warum tut er das?«
    »Weil es in China ohnehin zu viele Zigaretten gibt.«
    »Weiter«, drängt der Kleine.
    »Der Tibeter besitzt nichts, was er aus dem Fenster werfen könnte, denn er ist sehr arm. Also nimmt er einfach den Chinesen und schmeißt ihn zum Fenster hinaus.«
    »Und warum tut er das?« fragt Dhondup, auch wenn er die Pointe längst wieder weiß.
    »Weil es bei uns ohnehin zu viele Chinesen gibt!«
    Als Dhondup am nächsten Tag aufgekratzt und überglücklich von der Schule kommt, schreit er schon am Gartenzaun nach Dhamchoe, um ihm vom großen Erfolg seines Witzes zu berichten. Doch der große Bruder kommt ihm heute nicht entgegen. Mit ernstem Gesicht hockt Dhamchoe auf dem Bett seiner Zieheltern und krault Schimi Tata zwischen den Ohren. Zwei Rucksäcke stehen an den Pfosten gelehnt. Ein großer und ein kleiner. Da tritt Ama aus dem Nebenzimmer mit warmen Pullovern und einem kleinen roten Anorak.
    »Der ist für dich«, sagt sie mit zitternder Stimme, weil sie nicht weiß, wie sie es ihrem Sohn sagen soll.
    Dhondup nimmt den Anorak in seine Hände. Er ist dick und warm. Er muß sehr teuer gewesen sein. Wahrscheinlich hat ihn Ama bei ihrem letzten Besuch in Lhasa gekauft.
    »Danke, Amala«, flüstert er. Da beginnt das Zimmer zu wanken, und Dhondup kann den Boden unter seinen Füßen nicht mehr spüren. Die Mutter hat das Kind auf ihren Schoß genommen und wiegt es hin und her und hin und her.
    »Wir müssen jetzt alle sehr tapfer sein«, hört Dhondup seine Ama sagen. Doch ihre Stimme klingt weit weg: »Heute nacht wird ein LKW kommen und dich holen. Du mußt aber nicht alleine gehen. Dhamchoe wird dich begleiten. Bis nach Dharamsala. Und wenn er zurückkommt, wird er mir alles erzählen – wie es war auf dem Weg und ob du gut beim Dalai Lama angekommen bist. Du wirst auch nicht das einzige Kind in der Gruppe sein. Ein kleines Mädchen wird heute noch zu uns kommen. Großvater hat gesagt, es ist sehr nett, und daß ihr bestimmt gute Freunde werdet auf dem Weg. Und der Guide ist auch ein guter Mann. Du mußt ihm nur immer gehorchen und alles tun, was er dir sagt. Versprichst du mir das?

Weitere Kostenlose Bücher