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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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Dhamchoe wird sich um dich kümmern, und …«
    »Ich kann nicht weg!« Dhondup springt vom Schoß seiner Mutter. »Nicht heute, Amala! Ich muß morgen unbedingt in die Schule!«
    »Wir werden deinen Lehrern sagen, daß du krank bist«, versucht die Mutter das aufgeregte Kind zu beruhigen.
    »Ich muß aber morgen in die Schule! Ich habe den Kindern den Witz versprochen, wo der Tibeter mitten auf die Straße kackt !«
    Etwas vorwurfsvoll blickt die Mutter zu ihrem großen Ziehsohn: Sie mag diese dummen Witze nicht leiden. Doch Dhamchoe hat sich zu seinem kleinen Bruder auf den Boden gesetzt und packt ihn an seinen Schultern. »Du wirst deinen Witz erzählen, hörst du? Aber nicht in der Schule. Du wirst ihn den Kindern auf dem Weg erzählen. Sie werden unsere Witze noch viel dringender brauchen als deine Schulkameraden!«

Little Pema – der letzte Abend zu Hause
    » Daß ich unglücklich bin, ist nicht wirklich wichtig. Ich bin nur eine einzelne Frau. Alle Mütter, die ihr Kind wegschicken, haben Probleme. Deswegen ist mein größ ter Wunsch die Freiheit Tibets. Dann wird unser Land endlich die Möglichkeit haben, den Kindern eine Zukunft zu geben. «
    ENIE MUTTER AUS TIBEET
    Seit der alte Vater mit seinen nackten Füßen auf dem Gefängnishof angefroren ist, trägt er das ganze Jahr über dicke Fellsohlen in seinen Stiefeln. Die schneidet Little Pemas Mutter jetzt mit einer großen Schere für das Kind zurecht, denn das Geld reichte nur für eine warme Jacke und für Sonnenbrillen gegen die Helligkeit des Schnees.
    Der alte Amchi hat tatsächlich Wort gehalten und ihr Bescheid gegeben: Nima, der Guide, ist wieder im Land. Am Abend wird ein LKW kommen und sie zum Haus des Amchi bringen. Von dort geht es weiter nach Lhasa, wo sich alle Flüchtlinge aus Nimas Gruppe treffen werden. Wird es der richtige Zeitpunkt für Little Pema sein? Welcher Zeitpunkt ist überhaupt noch richtig für ein Kind, das nicht mehr gut laufen kann?
    Die Würfel ruhen im ledernen Futteral. Seit jenem Tag, an dem ihr Mann für immer hinter den grünen Hügeln verschwand, hat sie die Utensilien, die sie braucht, um in die Zukunft zu sehen, nicht mehr angerührt. Sie fühlt sich betrogen – von ihrer eigenen Gabe. Wenn ein Bauer sein Yak verloren hatte, konnte sie ihm einen Tip geben, in welche Richtung es gelaufen war. Wenn ein Kind fleckige Haut hatte, wußte sie, an welchem Nahrungsmittel es lag. Wenn ein junges Paar heiraten wollte, sagten ihr die Würfel, ob diese Verbindung fruchtbar sein würde.
    Warum hat sie dieser Instinkt bei ihren eigenen Entscheidungen verlassen?
    Sie konnte die kleinen Dinge des Lebens sehen und die großen. Wenn eine alte Amala ihre Geldbörse verlegte, wußte sie, wo sie zu finden war. Meist ahnte sie, wenn jemand im Dorf sterben würde.
    Warum war das Drama ihres eigenen Kindes nicht vorhersehbar für sie?
    Daß Little Pema nach Indien gehen soll, hatten ihr die Würfel schon lange gesagt. Warum haben sie ihr damals nicht zur Eile geraten? Warum ließ das Schicksal es zu, daß ihr Mann sein eigenes Kind noch halb totprügeln konnte?
    Sie sollte die Würfel auf einem hohen Hügel verbrennen. Oder vergraben. Tief in der Erde. Und mit ihnen die Gabe der Hellseherei.
    Das Tsampa, das sie nun in eine große Papiertüte füllt, hat sie besonders lange in ihrer gußeisernen Pfanne geröstet, damit es nach Nüssen schmeckt und ein wenig nach Schokolade. Aus dem Korb mit Aprikosen, die sie im Sommer auf der Gartenmauer getrocknet hatte, sucht sie mit Sorgfalt die besten heraus. Je intensiver die Farbe, desto süßer der Geschmack. Der Abschied wird bitter genug für das Kind. Den frisch gerührten Käse ihrer Yaks hat sie zu körnigem Granulat gerinnen lassen, so wird er nicht schlecht auf dem langen Weg nach Indien. Sie packt Reservesocken in den Rucksack, falls Little Pema im Schnee nasse Füße bekommt. Doch statt eines zweiten Paars Schuhe legt sie einen Schneeanzug aus gelbem Fleece dazu. Damit Little Pema etwas zum Wechseln hat, falls … falls die Kleine schlecht träumt und in die Hose macht. Sie hat dem Amchi nichts von diesem Problem erzählt – aus Angst, der Guide würde ihr Kind sonst nicht mitnehmen.
    Stumm beobachtet Little Pema die Handgriffe ihrer Mutter. Sie fragt nicht, wie lange sie in Indien bleiben muß. Sie fragt nicht, ob Ama sie besuchen wird. Sie will auch nicht wissen, ob sie Großvater jemals wiedersehen wird.
    Mit ihren flinken Fingern knüpft die Mutter ein silbernes Amulett an einen

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