Flucht über den Himalaya
damit uns sein markantes Schnarchen nicht unwillkommenen Besuch beschert.
Den Checkpoint haben wir noch vor der Morgendämmerung hinter uns gelassen. Schade, daß ich ihn im Dunkeln nicht erkennen konnte. Wir kletterten über einen bewaldeten Steilhang, um ihn zu umgehen. Mein Gesicht ist nun völlig zerkratzt von dem niedrigen Geäst der Bäume und Sträucher. Mit einem feuchten Taschentuch tupft Pema meine blutigen Schrammen sauber. »Das mußte meine Ama jeden Abend machen, wenn ich vom Spielen nach Hause kam.«
»Erzähl mir mehr von ihr.«
Pema zögert. Erst als wir in unseren warmen Schlafsäcken liegen, ist er bereit, seine Erinnerungen mit mir zu teilen.
»Um diese Uhrzeit ist meine Ama immer aufgestanden. Sie war die erste, die unser Bettlager verließ. Sie machte das Feuer, um Wasser für den Tee zu kochen. Dann schlüpfte sie leise aus dem Zelt ins Freie. Sie melkte die Dris …«
»Dris?«
»So nennen wir Tibeter unsere Yakkühe. Während meine Ama die Dris melkt, bittet sie immer die Götter um Schutz. So wurde ich jeden Morgen von ihren Gebeten geweckt und konnte mich langsam in meinen warmen Fellen in den neuen Tag träumen. Wenn Ama draußen fertig war, kam sie wieder – mit einem großen Bottich voll Milch. Sie füllte für jeden von uns eine Handvoll Tsampa in eine Schale. Darüber streute sie getrockneten Käse und schüttete vorsichtig heißen Tee an die Seite. Dazu tat sie einen großen Löffel Butter. Sobald die Butter im Tee geschmolzen war, tauchte ich ein Stück von Amas dickem weißem Amdo-Brot hinein. Der warme, aufgeweichte Teig tat gut am frühen Morgen. Und auch der Blick meiner Ama, der immer zufrieden auf uns Kindern ruhte. Auch wenn wir Mist gebaut hatten.
Wenn ich fertig war mit meinem Frühstück und ich mich angezogen hatte, kämmte Ama meine Haare. Sie küßte und drückte mich fest an sich. Dann rannte ich hinaus zu meinem Pferd. Ich schwang mich auf seinen Rücken und jagte es über das weite Grasland davon. Ama stand gerne am Eingang des Zeltes und schaute mir hinterher. Irgendwann war unser Zelt, vor dem meine Amala stand, nur noch ganz klein.«
Schnell zündet sich Pema eine Zigarette an. »Und du? Wie sieht es dort aus, wo du herkommst?«
»Ich bin aus Wien – Vienna, der Hauptstadt von Österreich. Das ist ein märchenhafter Ort mit prächtigen Bauten. Bevor mein Vater meine zweite Mutter heiratete, lebte ich bei meiner Oma – in Puchberg am Schneeberg. Sie kochte jeden Morgen heiße Schokolade und füllte sie in kleine, schlanke Tassen aus grün-weiß gestreiftem Porzellan. Das Haus meiner Großmutter liegt direkt an einem Wald mit großen, ausladenden Tannen. Die Äste dieser Bäume waren wie eine Leiter, auf der ich bis in den Himmel klettern konnte! Am liebsten saß ich ganz oben in den Wipfeln und wartete auf den Wind, der mich sanft hin und her wiegte.«
»Schön«, sagt Pema, schließt die Augen und fängt an zu singen …
Mit Vater Himmel über mir
und Mutter Erde unter mir
schweift mein Geist mit den Windpferden
von den hohen Bergen hinab über das weite Grasland.
Hier schlagen die Blumenwiesen Wellen
in der frischen Brise des Windes.
Hier grasen Yaks, Schafe und Pferde
in Harmonie mit …
»Pscht, Pema. Da kommt jemand.«
»Ho – Ho – Ho – Ho – Ho – Ho – Ho …« Ich kenne dieses Geräusch. Es ist das kollektive Keuchen der Drogpa, die unglaubliche Lasten über den Himalaya schleppen. Sie spornen einander an, indem sie beim Ausatmen diese vollen Töne aus ihren gebückten Körpern herausstoßen: »Ho-Ho- Ho …« Es klingt wie ein »Ja – Ja – Ja …« zur schweren Bürde ihres Lebens.
Einst transportierten die Drogpa in prächtig geschmückten Yakkarawanen Salz über die verschneiten Grenzpässe von Tibet nach Nepal. Nach der Besetzung des Schneelandes wurden die Pässe gesperrt. Die Drogpa verarmten. Seit einigen Jahren sieht man sie wieder über den Himalaya wandern. Die chinesische Regierung hat ihnen erlaubt, ihre Handelsgeschäfte erneut aufzunehmen. Da sich aber der Verkauf von Salz nicht mehr lohnt, schleppen die ehemaligen Salzmänner chinesische Billigware über die Pässe: Thermoskannen, Turnschuhe, Adidas-Plagiate. Nicht alle Drogpa besitzen ein Yak. Viele müssen ihre Lasten selbst schleppen.
»Ho – Ho – Ho – Ho – Ho – Ho …« Die Drogpa sind die Rock-’n’-Roller des Himalaya. Ihre langen Haare tragen sie zu Haarkränzen geflochten, die mit schweren Türkisen geschmückt sind. Der Türkis
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