Flucht über den Himalaya
und schlafen mit vollen, warmen Bäuchen. Durch die Ritzen der Wände pfeift der Wind, der sie in dieses Haus getrieben hat. Nur Nima liegt noch wach. Bedrohlich klopft der Schmerz an seine Lenden. Hier in der behaglichen Wärme taut er langsam wieder auf. Gerne würde er sich auf den Rücken drehen, doch dann reicht der Platz nicht mehr für ihn und die beiden Kinder. In der Mulde seines Körpers liegt Little Pema. An sie geschmiegt schläft Dhondup. Sein Atem rasselt durch die verstopfte Nase. Von der Wand lacht der junge Dalai Lama auf sie herab. Offensichtlich bekommen die Leute hier selten Besuch von der chinesischen Polizei. Das Schwarzweißfoto ist längst vergilbt, und das Glas des alten Bilderrahmens hat einen dicken Sprung. Doch Seine Heiligkeit strahlt immer noch mit jugendlicher Frische in die ärmliche Hütte hinein.
Schade, daß diese alten Leute ihren Gottkönig in diesem Leben wohl kaum mehr wiedersehen werden, denkt Nima und schläft schließlich ein.
In seinem Traum bringt er eine Glücksschärpe aus vergilbter Seide nach Dharamsala zum Dalai Lama – mit Grüßen aus der Heimat von einem alten Paala und seiner kleinen Amala. Und als er die Khata mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung überreicht, wird Seine Heiligkeit allmählich wieder jung – nur das linke Glas seiner eckigen Brille hat einen Sprung.
»Es ist schon wieder passiert«, flüstert Little Pema. Doch Nima schläft.
»Es ist schon wieder passiert«, flüstert Little Pema etwas lauter.
Benommen sucht Nima einen Weg aus den Träumen: »Was ist passiert?«
»Das, was immer passiert, wenn ich schlecht träume«, sagt Little Pema.
Da spürt Nima, daß es feucht in ihren Decken ist. Warm und feucht. Jetzt weiß er, warum der eisige Wind sie in diese Hütte getrieben hat. – Unvorstellbar, wenn dieses Mißgeschick irgendwo im Freien passiert wäre.
Danke, mein Freund, sagt er zum Wind und erhebt sich seufzend aus dem Lager.
Wenig später hängen Little Pemas Hosen über dem Herd, auch die feuchten Decken und Dhondups Kleider. Davor sitzen die beiden Kinder, halbnackt in die Felle der Gastgeber gehüllt. Little Pema wirkt wie ein zerzaustes Schneehuhn, und Dhondup ist es peinlich, von einem Mädchen angepinkelt worden zu sein. Neugierig lugen Chime und Dolker von ihrem Schlafplatz zu ihnen herüber.
»Wovor hast du Angst?« fragt Nima das Mädchen. »Vor den Chinesen? Oder vor der Nacht?«
Little Pema preßt schweigend die Lippen aufeinander.
»Fürchtest du dich schon vor dem Schnee oder ist es einer von uns, der dir zusetzt?«
Die Kleine wiegt sich hin und her und starrt ins Leere. Nimas Fragen scheint sie nicht zu hören.
»Passiert dir das öfter?« drängt Suja. »Hey, wir müssen das wissen! Das kann sehr gefährlich werden mit nassen Hosen da oben! Wir müssen uns was einfallen lassen, damit es nicht noch mal geschieht, verstehst du?«
Endlich nickt Little Pema mit dem Kopf. Es ist eine kleine, vorsichtige Bewegung, kaum wahrnehmbar, als wolle sie sagen: ›Little Pema ist noch da!‹
»Wir könnten ihr zum Schlafen Sujas Glückskappe geben«, flüstert Dolker schüchtern in die Runde, »dann hat Pema bestimmt keine schlechten Träume mehr.«
»Gute Idee!« ruft Suja und wirft der kleinen Mamsell einen dankbaren Blick zu. »Meine Glückskappe ist wirklich etwas Besonderes: Sobald man sie trägt, kann einem nichts mehr passieren! Sie gehörte einst einem mongolischen Krieger. Er war sehr mutig, kämpfte immer auf der Seite der Guten und galt als unverwundbar! Denn weder Pfeil noch Kugel konnten ihn treffen. Sie sausten – wusch – haarscharf an ihm vorbei, sobald er die Glückskappe aufgesetzt hatte.«
»Und woran ist der Krieger dann gestorben? An Schnupfen? Oder der Krätze?« fragt lachend der alte Paala, der die gesponnene Wolle seiner Frau zu Knäueln wickelt.
»Ein einziges Mal vergaß der mutige Mongole, seine Glückskappe aufzusetzen. Er hatte sich in eine indische Prinzessin verliebt und war offenbar nicht ganz bei der Sache. Peng! Da wurde er von einer erfrorenen Maus erschlagen, die ein Adler aus seinen Klauen fallen ließ, als er durch die eisigen Höhen kreiste.«
Suja setzt Little Pema die ›mongolische Glückskappe‹ auf, und die Flüchtlinge applaudieren ganz leise, damit niemand im Dorf es hören kann.
»Laßt uns noch ein paar Stunden schlafen«, sagt Nima, während das alte Mütterchen ihren Gästen noch schnell frischen Tee einschenkt. Little Pema bekommt nur eine halbe Tasse.
Es ist die
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