Flucht über den Himalaya
den armen Floh, den er auf seinen Armen trägt. Aber nicht wegen des kaputten Beines, sondern weil Little Pema sich von ihrer Mutter betrogen fühlt. Sie werden dieses Kind oft schleppen müssen, obwohl es nicht einmal das jüngste ist. Dolker ist genauso klein, und wie tapfer trägt sie die Entscheidung der Mutter auf ihren eigenen Beinen mit! Ebenso Chime, die auch noch die Sorge um ihre jüngere Schwester im Gepäck hat. Dhondups Durchhaltevermögen ist für Nima schwer einzuschätzen. Aber er ist ein Junge und wird möglichst lange versuchen, sich keine Schwäche anmerken zu lassen.
Wenn ich groß bin, werde ich Big Boss in einer großen Firma, denkt Dhondup. Dann werde ich für Ama eine schöne Chuba kaufen, für Paala eine goldene Waage und für Großvater einen großen Schaukelstuhl!
Dieser bescheuerte Typ, der hinter ihnen geht, läßt seinen Bruder nicht in Ruhe: »Es fängt damit an, daß du deine Finger nicht mehr bewegen kannst. Dann werden sie irgendwann schwarz.«
»Und dann?«
»Dann sind sie so tot wie Brennholz, und du kannst sie nur noch abschneiden.«
Instinktiv greift Dhondup nach der Hand seines Bruders.
Ein schmales Band in violetter Farbe hat sich an den Horizont gelegt. Bevor es hell wird, muß Nima seine Gruppe hinter die Hügelkette gebracht haben. Also los, ran an die erste Steigung! Besser jetzt als später. Er kann es ihnen ohnehin nicht ersparen.
Lobsang ringt um Atem. Als Mönch ist er gewohnt zu meditieren, zu beten und manchmal während der Puja die große Trommel zu schlagen. Ein guter Muschelhornbläser war er nie. Dafür fehlte ihm die Puste. Dafür war er schnell im Lernen heiliger Texte. Vielleicht schafft das Rezitieren eines Mantras Ablenkung von seiner Sorge, den Strapazen nicht gewachsen zu sein: Om Tare Tu-Tare Ture Soha … O heilige Mutter, Tara Buddha, bitte führe und erhalte uns am Leben …
Der Himmel färbt sich langsam blau, und die Gestirne verblassen. Nur der Morgenstern funkelt immer noch treu vom Himmel herab.
Heulend geht der kleine Dhondup an der Hand eines fremden Mannes.
Eilig steigen sie in ein Tal hinab, um dem verräterischen Licht des Tages zu entkommen. Die Schlucht ist eng genug, um die Nacht noch für eine Weile darin gefangenzuhalten. Eine feuchte Kälte strahlt aus ihren Wänden wie aus einem unbewohnten Haus. Das Rauschen eines Flusses klingt düster und gefährlich. Nimas Schritt verrät Zielstrebigkeit: Die Höhle, die er sucht, ist nah. Hilfsbereit dreht sich der Wind und trägt ihm den Geruch von verbrannter Asche in die Nase. Jetzt öffnet sich der Fels wie der Mund eines steinernen Fisches. Vorsichtig betreten sie die geräumige Höhle. Das Zirpen eines munteren Vogelpärchens begrüßt den Morgen.
»Es fehlen zwei Leute«, stellt Suja mit trockener Stimme fest.
»Wo ist dein Bruder?« fragt der Guide Dhondup, der sich in eine finstere Ecke verkrochen hat.
»Raus mit der Sprache!«
»Er ist umgedreht, weil er Angst vor schwarzen Fingern hat.«
»Er hat dich einfach alleine gelassen?«
Ein junger Mann, den sie ›Currasco‹ nennen, weil auf seiner roten Kappe die Inschrift einer amerikanischen Restaurantkette prangt, mischt sich ein: »Er hat mich gebeten, auf seinen kleinen Bruder zu schauen. Und dann ist er fort mit diesem Lhasa-Boy.«
»Warum habt ihr mir nicht Bescheid gegeben?«
»Der Amchi-Sohn hat gesagt, daß wir den Mund halten sollen. Er hatte wirklich Panik und wollte keinen Ärger machen.«
»Jetzt haben wir aber Ärger – jede Menge sogar«, sagt Nima.
Wütend schlägt sich Suja gegen die Stirn: »Shit, warum hab’ ich das nicht bemerkt? Ich Idiot!«
»Wann sind sie abgehauen?« fragt der Guide.
»Weiß nicht genau.«
»Wo, an welcher Stelle?«
»Da, wo es steil wurde«, sagt ein anderer kleinlaut, der in einem großen, beigen Mantel steckt.
Suja schmeißt seine Jacke auf den Rucksack: »Ich laufe zurück. Ich kriege die, bevor sie zu den Häusern kommen.«
»O.k.«, sagt Nima, und Suja macht sich eilig davon.
»Warum laßt ihr die Jungs nicht einfach laufen?« fragt Currasco.
Trotz der Aufregung bleibt Nimas Stimme ruhig: »Wenn die Polizei diese beiden Dummköpfe erwischt, sind wir alle dran. Die sind doch viel zu jung, um dichtzuhalten, wenn es eng für sie wird!«
Chime hockt sich zu Dhondup, der mit seinen Fingern Löcher in die Turnschuhe puhlt: »Laß das. Du brauchst deine Schuhe. Der große Mann wird deinen Bruder bringen.«
Traurig schüttelt Dhondup den Kopf.
Nach zwei Stunden kommt
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