Flucht über den Himalaya
Himalaya jetzt ebenfalls durch die Dunkelheit schleichen. Der volle Mond, der auf uns herabblickt, ist derselbe, der auch ihnen den Weg leuchtet.
Plötzlich hören wir Schritte, die uns entgegenkommen. Der Weg ist schmal. Wir könnten jetzt links in einen Abgrund hinunterspringen oder rechts einen Steilhang hinaufklettern. Die erste Aktion wäre tödlich, die zweite bescheuert.
»Straight on«, flüstert Pema, »weiter.«
Die anderen sind zu dritt. Und mindestens so erschrocken wie wir. Sie ziehen ihre Köpfe ein und huschen grußlos an uns vorbei, als blieben sie auf diese Weise unentdeckt.
»Keine Angst, Leute«, flüstert Pema in seiner Landessprache, »wir sind auch Tibeter.«
Das Grüppchen bleibt zögernd stehen. Erst als sich Pema mit seiner Taschenlampe ins Gesicht leuchtet, kichern sie. Es sind Frauen.
Die Mutigste sagt leise: »Tashi Delek.«
Sie kommen aus Tibet und wollen zum Dalai Lama: drei Nonnen auf der Suche nach einer neuen spirituellen Heimat. Etwa dreißig Jahre sind sie alt, tragen dicke Jacken über ihrer dunkelroten Robe und feste Schuhe. Ihr Haar ist immer noch kurz. Wir fragen sie nicht nach ihrer Geschichte, denn die ist ohnehin immer dieselbe: Achtzig Prozent der politischen Gefangenen in den chinesischen Gefängnissen sind Nonnen und Mönche. Die Klöster galten immer schon als Hochburgen des Widerstands. Das hat viel damit zu tun, daß der Dalai Lama sowohl politisches Oberhaupt als auch eine der bedeutendsten religiösen Figuren Tibets ist. Immer wieder gehen junge Nonnen in Lhasa auf die Straße, um für ein freies Tibet zu demonstrieren oder dem Dalai Lama ein langes Leben zu wünschen. Der Preis für diese wenigen Sekunden ›freier Meinungsäußerung‹ ist hoch: viele Jahre Haft, Folter, manche sterben, viele werden vergewaltigt und wissen nachher nicht, ob sie überhaupt noch Nonnen sein können.
Wer irgendwann freikommt, steht auch nach der Entlassung unter scharfer Kontrolle und muß im Alltag unter Repressalien leiden. Deshalb versuchen viele ehemalige Häftlinge so schnell wie möglich nach Indien ins Exil zu gelangen. In Dharamsala bin ich einer jungen Nonne begegnet, die acht Jahre in Lhasas berüchtigtem Drapchi-Gefängnis verbüßt hatte. Ihr Mut, den sie aus einer tiefen Spiritualität schöpfte, hat mich sehr bewegt.
»Wir sind zu viert auf die Straße gegangen und haben laut ›Lang lebe der Dalai Lama!‹ gerufen«, erzählte sie mir, »dann ist die Polizei gekommen und hat uns verhaftet. Man sagte uns: ›Was ihr getan habt, ist gegen die chinesische Regierung. Ihr seid Kriminelle, sagt, daß das kriminell ist, was ihr gemacht habt!‹
Das haben wir natürlich nicht getan. Während der Verhöre und der Folter fühlten wir, daß das, was wir getan haben, richtig war. Manche der Polizisten, die uns schlugen und folterten, waren selber Tibeter. Aber sie fühlten nichts. Sie taten das auf Befehl. Wir spürten keinen Haß gegenüber diesen Polizisten. Wir spürten, daß die Folter etwas mit unserem Leben zu tun hat, daß wir sie selbst zu verantworten haben.«
»Wo ist euer Guide?« fragt Sotsi die Nonnen.
»Er hat uns nur bis an die Grenze gebracht.«
»Und wie habt ihr den Weg hier herunter gefunden?«
»Erst sind wir den Fußspuren im Schnee, dann den Yakfladen gefolgt.«
Eine der Frauen hustet schwer. Es klingt nach einer tiefsitzenden Bronchitis, vielleicht ist es auch eine Lungenentzündung.
»Sie hat Fieber«, sagt ihre Mitschwester und bittet um Medikamente. Nur zu gerne packe ich unseren Arzneibeutel aus und suche nach dem geeigneten Mittel.
Sotsi gibt den Frauen einen Tip, wo sie sich untertags verstecken können. Werden sie von nepalesischen Soldaten erwischt, würden sie entweder wieder nach Tibet zurückgeschickt oder nach Kathmandu in ein Gefängnis gebracht werden. Bis zu zehn Jahren Haft drohen einem tibetischen Flüchtling, der auf nepalesischem Boden aufgegriffen wird.
Die Frauen bedanken sich. Sie wünschen uns ein langes, glückliches Leben. Wenige Augenblicke später hat die Nacht sie verschluckt. Nur ihre Schritte sind noch zu hören.
Am frühen Morgen verkriechen wir uns hinter einer niedrigen Mauer, die den Schafhirten dazu dient, ihre Tiere zusammenzuhalten. An den vertrockneten Schafskötteln können wir erkennen, daß der Pferch zur Zeit nicht gebraucht wird. Das Mäuerchen ist ein ideales Versteck und ein guter Schutz gegen den Wind. Kelsang und Sotsi schlafen sofort ein. Wir müssen Pemas rundlichen Schwager zur Seite drehen,
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