Flucht über den Himalaya
Köpfen vor ihren Gottkönig. Mir ist, als könnte ich ihre aufgeregten Herzen schlagen hören. Was fühlen sie? Angst? Scheu? Ehrfurcht?
Chime hat vier Jahre lang in der Schule gelernt, daß der Dalai Lama ein ›Wolf im Schafspelz‹ sei, der das tibetische Volk für seine schlechten Absichten nutze. Die Mutter hat ihr jeden Abend erklärt, daß das nicht stimmt – leise, damit es die Nachbarn nicht hören.
Little Pema kennt ein Versteck, in dem der Großvater verbotene Bücher des Dalai Lama aufbewahrt. Sie mußte ihm versprechen, dieses Geheimnis selbst vor Freunden zu hüten.
Dhondups Mutter trug dem Kleinen auf, sein Schutzmedaillon mit dem Bild des Dalai Lama zu verstecken, falls er auf der Flucht von der chinesischen Polizei aufgegriffen würde.
Jetzt wagt Dhondup kaum, Seine Heiligkeit anzusehen, als dieser ihm mit ein paar freundlichen Worten die gesegnete Glücksschärpe um den Hals legt.
Little Pema verschlägt es gar die Stimme, als der Dalai Lama sie nach ihrem Alter fragt.
Und Chime antwortet auf die Frage, woher sie komme: »Zehn Jahre.«
Kaum wird sie sich ihres Versprechers bewußt, schlägt sie ihre Hände vors Gesicht und läuft davon. Der Dalai Lama findet es lustig, und ich fange sein unverkennbares Lachen mit meiner langen Tonstange ein.
Ich bin so froh, daß Richy diese Momente filmt! Wenn die Kinder groß sind, werden wir uns gemeinsam diese Aufnahmen ansehen. Und dann wird mir Chime vielleicht erzählen können, was in einem Kind vorgeht, das plötzlich vor seinem Gottkönig steht.
Big Pema nimmt die Audienz gelassen – es ist nicht seine erste. Trotzdem hat er seine traditionelle Tracht angelegt. Nach ihm tritt Suja vor Seine Heiligkeit. Ich zucke zusammen: DON’T MEDITATE steht in großem Graffiti auf Sujas hellbraunem Sweatshirt.
Warum ist mir das nicht früher aufgefallen? Dann hätte Suja noch schnell den Pullover wechseln oder etwas überziehen können. Wahrscheinlich hat er keine Ahnung, mit welchem Logo auf der Brust er da vor sein religiöses Oberhaupt tritt!
Der Dalai Lama nimmt es gelassen. Vielleicht hat er es auch gar nicht bemerkt. Er blickt dem ›Soldier‹ aufmerksam ins Gesicht, als könnte er darin seine Geschichte lesen.
»Wo hat Suja dieses Sweatshirt her?« frage ich Pema, als wir vom Bungalow des Dalai Lama die kleine Straße zu unserer Herberge hochgehen.
Im Reception-Center von Kathmandu, wo die Flüchtlinge provisorische Pässe für ihre Weiterreise nach Indien ausgestellt bekamen, stand eine große Kiste mit Kleiderspenden aus dem Westen. Dort haben sich unsere Kinder und die jungen Männer all das herausgeholt, was sie in dem feuchtwarmen Klima ihrer neuen Heimat gut gebrauchen konnten. Und da Suja die fremdartigen Buchstaben auf dem hellbraunen Sweatshirt besonders gut gefielen, hat er es sich offenbar für die Audienz aufgehoben.
»Meinst du, wir sollen Suja sagen, was da draufsteht?«
»Nicht heute«, sagt Pema. »Vielleicht in einem halben Jahr. Dann wird er darüber lachen können.«
Im Tibet-Hotel habe ich drei große Zimmer für uns alle gemietet, so lange, bis Suja, Lobsang und die Kinder für verschiedene Schulen, Klöster oder andere Einrichtungen eingeteilt werden. Normalerweise werden alle Neuankömmlinge im Reception-Center untergebracht, aber wir wollten so lange wie möglich zusammenbleiben.
Die Restaurants in Dharamsala sind sehr klein, und ich muß oft ein ganzes Lokal reservieren, wenn wir Hunger haben. Die Wirte machen ein gutes Geschäft mit uns.
Little Pema bestellt heute Momos, wie immer, Dolker Nudeln mit Gemüse, und Dhondup ist der große Suppenesser. Lhakpa ißt nach wie vor sehr wenig, und Chime hat gestern ihren ersten Burger probiert. Tamding trinkt gerne Coca- Cola, seit er die ›süße braune Flüssigkeit‹ zum ersten Mal in Lhasa probieren durfte.
Tamding war das erste Kind, dem ich in den Bergen begegnete, und es ist ihm sehr wichtig, das stets zu betonen. Vielleicht, weil er in seiner Familie immer ›der Dritte‹ war. Er ist sehr unkompliziert und selbständig. Kann sein, daß die langwierige Flucht aus Amdo, der prägende Aufenthalt im Gefängnis und die lange Zeit, die er alleine auf sich gestellt in Lhasa verbrachte, den Jungen so autark gemacht haben. Ich glaube, daß Tamding uns Erwachsene nicht wirklich braucht. Er bittet um nichts, drängt sich nicht auf, er ist immer freundlich, ruhig und ausgeglichen.
Der kleine Dhondup ist ein Womanizer. Seit er unter der Tischplatte dieser Berghütte in meinen
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