Flucht vor den Desperados
von Chicago aus seine Detektivagentur. Viele Detektive arbeiten für ihn, auch einige Frauen.«
»Ach ja?« Sie zog meine Füße an meine Hände heran.
»Ja. Eine von ihnen heißt Miss Kate Warne. Sie verkleidet sich und tut so, als wäre sie jemand anderer.« Ich zitierte das von einer Zeitung, die mir Ma Evangeline einmal gezeigt hatte: »
In dieser cleveren Tarnung holt Miss Kate Warnes Geständnisse aus den Übeltätern heraus.
Manchmal beschattet sie Leute«, fügte ich hinzu. »Das heißt, dass sie sie verfolgt.«
»Woher weißt du das?«, fragte Belle.
»Es stand in einer Zeitung.« Ich wandte den Kopf herum und versuchte, Belle über meine Schulter hinweg anzusehen. »Ich nehme an, wenn mein Onkel Frauen als Detektive anstellt, wird er vielleicht auch Kinder engagieren. Besonders, wenn sie sein eigen Fleisch und Blut sind. Ich bin mir sicher, wenn ich nach Chicago kommen könnte, würde mein Onkel mich in seiner Detektivagentur als Private Eye gebrauchen können«, fügte ich hinzu. »Wenn ich meinen Stachel überwinden kann.«
»Was ist denn ein Private Eye?«, fragte sie, während sie meine Fußgelenke mit den Handgelenken zusammenband.
Ich sagte: »Ein Private Eye ist jemand, den man damit beauftragt, die Wahrheit auszuspionieren.«
»Nun, ich hoffe, du hast Erfolg«, sagte sie, während sie das Band festzurrte. »Aber im Augenblick brauche ich diese Münze und diesen Brief.«
»Ich habe Ihnen vorhin das Leben gerettet, als ich Walts Kumpan mit dem Bügeleisen getroffen habe.«
Sie schnappte nach Luft: »Wessen Kumpan?«
»Walts. So haben sie ihn jedenfalls genannt.«
Ihr Gesicht tauchte in meinem Blickfeld auf, als sie vormich trat. »Dieser Mann war Walt, der Schnitzer?«, fragte sie. Ihr war die ganze Farbe aus dem Gesicht gewichen, und ihre Stimme klang belegt.
»Nicht der, auf den Sie geschossen haben«, sagte ich. »Der andere. Der mit Ihnen gesprochen hat, als ich mich unter Ihrem Rock versteckt habe.«
»Das war Walt, der Schnitzer?«
»Ich kenne seinen ganzen Namen nicht«, sagte ich. »Ich weiß nur, dass die beiden anderen ihn Walt genannt haben.«
»Lieber Gott.« Sie versenkte das Gesicht in ihren schwarzen Handschuhen. »Oh, lieber Gott, nein!«
»Was ist denn los?«, fragte ich.
»Walt, der Schnitzer, ist der gefürchtetste Outlaw im ganzen Territorium«, erklärte sie. Ihre Stimme wurde von ihren Händen gedämpft. »Weißt du, warum sie ihn Walt, den Schnitzer, nennen?«
»Nein.«
Sie hob das Gesicht und schaute mich mit einem der wenigen Gesichtsausdrücke an, die ich leicht erkennen kann: Angst.
Sie sagte: »Sie nennen ihn Walt, den Schnitzer, weil er aus seinen Opfern Stücke herausschnitzt. Bei lebendigem Leib.«
KONTOBUCHBLATT 12
Dann war Belle auch schon aus der Hütte heraus und rannte davon. Ich hatte sie nicht mehr bitten können, mir mehr über den schrecklichen Desperado zu erzählen, der hinter mir her war.
Meine erste Bekanntschaft in Virginia City hatte mich ausgeraubt und gefesselt. Meine Hand- und Fußgelenke waren zusammengebunden, und ich lag auf meiner linken Seite auf rohen Holzdielen. Ich war schon dankbar, dass sie mich nicht auch noch geknebelt hatte. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und bald würde es Nacht sein.
Mir schien, es gab nur eines, was ich tun konnte: um Hilfe rufen.
Wie auch immer, ich habe es nicht gern, um Hilfe rufen zu müssen.
Ich hab es nicht einmal gern, um Hilfe
bitten
zu müssen.
Ich erledige Dinge gern selbst.
Es wurde immer dunkler.
Irgendwo draußen in den Büschen hörte ich einigeWachteln. Sie riefen »Chicago! Chicago!«, als wollten sie mich an mein Ziel erinnern.
Dann hörte ich einen Chor heulender Kojoten unten im Canyon. Kojoten fressen so ziemlich alles, und ich wusste, sie würden mich nicht verschmähen, nur weil ich halb Sioux war und halb Weißer. Das entschied die Sache: Ich wollte nicht bei lebendigem Leib von Kojoten gefressen werden.
»Hilfe!«, rief ich. »Bitte helft mir! Ich bin ausgeraubt worden und liege gefesselt in diesem halb fertigen Schuppen. Ich will nicht bei lebendigem Leib von den Kojoten gefressen werden!«
Ich hatte noch nicht lange gebrüllt, als ich Schritte herankommen hörte und den Atem anhielt. Plötzlich wurde mir klar, dass die einzigen Leute, die ein Interesse daran hatten, mich hier aufzustöbern, Walt, der Schnitzer, und seine zwei Kumpane waren.
Hatten meine Rufe sie angelockt?
In diesem Moment schien mir der Kampf gegen eine Horde hungriger Kojoten doch
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