Flügel aus Asche
etwas anderes, und die Kristalle der Stäbe wiesen tiefe Sprünge auf und bestanden zum Teil nur noch aus Splittern. Sie hatten ihre Magie längst verbraucht.
Adeen erkannte keines der Ratsmitglieder wieder; Charral befand sich nicht unter den Gefangenen. Welcher von ihnen allerdings Talannas Vater war, darüber konnte kein Zweifel bestehen. Ein sehniger, hochgewachsener Mann mit ebenso violetter Haut und wilden gelben Augen wie Talanna umklammerte seinen Dolch mit verzweifelter Entschlossenheit. Obwohl man ihm sein Gewand halb vom Körper gerissen hatte, vermittelte er noch immer den Eindruck eines Mannes, der sich seiner Position und Würde bewusst war und den kein Gegner beeindrucken konnte. Sein Haar war weiß, aber ein paar rote Strähnen glänzten noch darin: Ein Feuer-Draquer wie seine Tochter. Trotz allem empfand Adeen einen widerwilligen Respekt vor dem Mann, den weder seine persönliche Niederlage noch die Vernichtung seiner Heimat gebrochen hatte.
An einer Stelle war das Pflaster des Platzes aufgesprengt, dort hatte jemand einen behelfsmäßigen Galgen aus hastig zusammengezimmerten Balken errichtet. Das Gebilde hatte bereits bei ihrem Eintreffen dort gestanden. Ein Leichnam in Magierrobe hing von dem Querbalken herab und schwankte leicht im schwachen Wind. Im ersten Moment hatte Adeen voller Entsetzen geglaubt, es sei Charral. Alles passte, das helle Haar und die ebenso helle Haut, die rot-blaue Robe. Doch nun, da er gezwungen war, im Zentrum des Platzes neben der Königin zu stehen, ganz in der Nähe des Galgens, konnte er erkennen, dass es jemand anderes sein musste. Das blau angelaufene Gesicht war zwar bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, doch Charral war schlanker und größer gewesen. Voller Unbehagen fragte sich Adeen, wer den Mann getötet hatte – die Truppen der Eroberer oder die Einwohner Rashijas, die Rache an denjenigen üben wollten, die sie all die Zeit unterdrückt und belogen hatten.
Eine einzelne mutige Krähe hatte den Galgen gefunden und flatterte über dem Kopf des Toten. Sie ließ sich nicht abschrecken, weder von der Menschenmenge noch von der verqualmten und stinkenden Luft. Ihr Krächzen mischte sich in den allgegenwärtigen Lärm.
Adeen presste seinen Umhang gegen Mund und Nase und atmete durch den Stoff. Ihm war nach wie vor übel. Er versuchte, Talanna zu entdecken, sah sie aber nirgends. Seit dem letzten Abend hatte er nichts mehr von ihr gehört. Wo mochte sie sein? Wenn ihr nur nichts zugestoßen war! Oder kam sie nicht, weil sie den Anblick ihres gefangenen Vaters nicht ertrug?
»Ehe unsere Gespräche beginnen«, sagte die Königin laut, und der Lärm sank auf ein erträgliches Maß herab, sobald sie zu sprechen begann, »sollen alle, die sich hier versammelt haben, die Wahrheit über diese Stadt und ihren sogenannten Herrscher erfahren. Adeen, einer von euch, den ihr hier neben mir seht, kennt sie, denn er hat sie mit eigenen Augen gesehen. Bitte, Adeen, erzähl uns allen, was dir im Herrscherpalast widerfahren ist.«
Der Schreck fuhr Adeen in die Glieder. Davon, dass er vor so vielen Menschen sprechen sollte, war nie die Rede gewesen! Die Augen der Menschen richteten sich auf ihn, und sein Mund wurde trocken. Aber er nahm seinen Mut zusammen und schluckte das Gefühl der Panik hinunter, so gut es ging. Nachdem er schon so viel Schlimmeres überstanden hatte, würde er auch das hier irgendwie hinter sich bringen.
Nur stockend gelang es ihm, zu erzählen, wie er und Talanna in den Palast des Herrschers eingedrungen waren und was sie dort erlebt hatten. Er konnte die Ungeduld der Menge fast körperlich spüren, während er nach Worten suchte, aber schließlich flossen sie rascher. In seinen Kopf hatten sich die Geschehnisse eingebrannt. Wenn er nur das eingefallene, bekümmerte Gesicht des toten Herrschers zeichnen könnte, so wie er sich daran erinnerte, er würde sie alle überzeugen – so konnte er nur sein Bestes tun, um es mit Worten nachzuzeichnen.
Ein Raunen lief durch die Menge. Empörung, Erstaunen, Ekel, alle Gefühle spülten über den Platz hinweg wie Wellen. Adeen war froh, als er alles erzählt hatte und sich wieder hinter die Königin zurückziehen konnte. Trotz seiner Unbeholfenheit hatte der Bericht seine Wirkung nicht verfehlt. Die Anspannung war gewachsen, und überall ballten sich Fäuste, schlossen sich Hände fester um die improvisierten Waffen.
Die Königin wartete, bis sich die größte Aufregung gelegt hatte. Dann sagte sie ruhig: »Die
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