Fluegelschlag
Gedanken zu verbergen.
»Keine Sorge, ich bin nicht so empfindlich, wie du anzunehmen scheinst.« Nigella schob eine Hand auf Junas Arm, und sofort legte sich die Anspannung. »Und ich kann deine Gedanken auch nur enträtseln, wenn du besonders aufgeregt bist. Übrigens: Kompliment. Den Marquis hast du recht nett ins Leere laufen lassen. Leider hast du damit auch seine Aufmerksamkeit erregt. Ich würde mich nicht wundern, wenn er versucht, dich Nácar abzuschwatzen.«
»Sie handeln mit Gefangenen?«
»Aber ja. Wann immer Dämonen etwas Besonderes entdecken, müssen sie es besitzen. Dafür gehen sie fast jedes Risiko ein. In diesem Fall würdest du den Marquis aber kaum etwas kosten. Nácar steht tief in seiner Schuld.« Sie sah Juna durchdringend an. »Aber dein Feuer kann es nicht sein, was die beiden an dir interessiert. Was ist es dann?«
Juna zögerte. Sie wusste so gut wie nichts über Nigella. So wenig, wie sie sich in dieser neuen Welt auskannte, hätte sie auch eine Dämonin sein können. Hieß es nicht, der Teufel sei listig und verschlagen? Unwillkürlich berührten ihre Fingerspitzen den Talisman, der an ihrem Hals baumelte, und sie erinnerte sich an Cathures Worte, als er ihr das Lederband umgelegt hatte. Es wird dir helfen, die Wahrheit zu erkennen. Sie umfasste das trockene, warme Holz.
Gleich darauf glitten kühle Finger über ihre Hand. »Öffne deine Sinne«, flüsterte Nigella.
Erst geschah nichts, und Juna wollte schon aufgeben, da sah sie es vor sich: eine menschenleere Bucht. Immer neue Schaumkrönchen adelten die heranrollenden Wellen. Tausende trugen zärtliche Küsse herbei. Großer Frieden und Wärme gingen von dieser Szene aus.
Doch plötzlich teilte sich die See, und eine Göttin entstieg ihr mit leichtem Schritt. Sie glitzerte in der Sonne wie Abertausende winzige Perlen, als trüge sie ein wiesengrünes, durchscheinendes Gewand über ihrer seeblauen Haut. Auf einer Mähne aus Seetang thronte eine Korallenkrone. Juna hielt den Atem an. Wie in einer gewagten Kamerafahrt schien sie sich nun auf die Nixe zuzubewegen, bis sie tief in ihre Seele blicken konnte. Ohne länger zu überlegen, warf sie die Vision über Bord. Sie wollte die Geheimnisse der Fee nicht kennen.
»Ich kann Engel sehen. Schutzengel, um genau zu sein.«
Überrascht ließ Nigella sie los, und ihre Hand flatterte zum Mund. »Sag mir, dass du nichts mit Nácars jüngsten Machenschaften zu tun hast!«
»Natürlich nicht!«
Juna erzählte von den Entführungen und ihrer eigenen
Verschleppung. Dabei schönte sie auch die Rolle ihres Bruders nicht. Die Erinnerung an Iris’ Tod ließ sie schließlich verstummen.
Die Fee legte einen Arm um ihre Schulter und führte sie aus dem Raum, der für drei Tage ihr Gefängnis gewesen war, als müsse sie sich nicht mehr um die Befehle ihres dämonischen Kerkermeisters kümmern. »Die Besprechungen mit dem Marquis können ewig dauern. Die Zeit sollten wir nutzen, damit du dich in seinen Gemächern zurechtfindest, falls ich einmal anderweitig … gebunden sein sollte.«
Viel gab es nicht zu sehen. Ihr Weg führte sie durch eine mittelalterliche Halle, an deren Wänden Fackeln loderten. Der Boden war mit Stroh bedeckt, und in einem großen Kamin brannte ein mächtiges Feuer. In der Mitte des Raums stand ein riesiges Bett. Daneben hing ein goldfarbener Vogelkäfig an einer langen Kette, nach dessen Bewohner Juna jedoch vergeblich Ausschau hielt. Augenscheinlich war der Vogel ausgeflogen.
»Alte Gewohnheiten sterben langsam. Seine letzten großen Erfolge hatte er mit dem Schwarzen Tod. Zuweilen stellt er in dieser Halle die Schlüsselszenen seines Wirkens nach.«
Juna sah sich um. Die Kulisse würde zeitlich passen. Gerade wollte sie etwas sagen, da hörte sie einen Klagelaut. »Was ist das?« Juna sah sich neugierig um und machte Anstalten, auf eine hölzerne Tür zuzugehen, hinter der sie das Geräusch zu hören geglaubt hatte.
Nigella drängte sie voran. »Komm weiter, komm weiter! Es gibt nichts zu sehen.«
Juna vergaß die geheimnisvolle Tür, als sie sich den Dämon vorstellte, der sich davon unterhalten ließ, wie Menschen
um ihn herum in einer Art pervertierten Prozessionsspiels qualvoll starben. Sie bemühte sich, dieses Bild zu verdrängen, und fragte sich, wie sie solch widerliche Fantasien entwickeln konnte. Färbte die Umgebung etwa schon auf sie ab? Wahrscheinlich sehe ich nur das, was auch tatsächlich hier stattfindet. Beruhigend fand sie diesen Gedanken
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