Flüsterherz
er.
Ich zögerte kurz, dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund.
Das glückselige Lächeln auf seinem Gesicht, als er ging, werde ich nie vergessen.
Im Bett ließ ich den wunderbaren Abend in Gedanken noch einmal Revue passieren, vom ersten Satz im Chat bis hin zu Easys Lächeln nach dem Kuss.
Ich war viel zu aufgekratzt, um schlafen zu können, und hatte das dringende Bedürfnis, jemandem von Easy und mir zu erzählen. Es war zwar schon ziemlich spät, aber Tibby war bestimmt noch auf, krank oder nicht. Vielleicht ging sie jetzt endlich ans Telefon.
Nach viermal klingeln meldete sich ihre Mailbox.
Dann eben nicht, dachte ich.
Eileen nahm auch nicht ab.
Als Nächstes wählte ich Jeskes Nummer.
»He, Anna! Wie nett«, sagte Jeske. »Du rufst spät an. Ist was passiert?«
»Ja-ha«, sagte ich. »Hast du kurz Zeit? Ich muss dir was erzählen.«
»Klingt spannend, leg los.«
Höchst interessiert hörte Jeske sich meine Geschichte an.
»Wow, ist ja irre romantisch. Küsst er gut?«
»Muss ich noch rausfinden«, sagte ich. Wenn ich Jeske die Sache mit dem Kuss erzählte, wusste es morgen die ganze Schule.
»Wird schon werden. Jedenfalls mag er dich.« Sie freute sich mit mir und das tat gut.
»Hoffen wir’s.«
»Mit Sicherheit. Liebe auf den ersten Blick. Superromantisch! Dann gute Nacht. Träum schön.«
Auf den ersten Blick? Ich schwärmte zwar schon seit Monaten für Easy, aber egal. Ich war froh, dass ich Jeske angerufen hatte. Wann hatte ich das letzte Mal mit Tibby so locker geplaudert?
Es war lange her. Viel zu lange.
8
Am Freitag fehlte Tibby noch immer. Ich machte mir allmählich Sorgen, aber viel Zeit, darüber nachzudenken, hatte ich nicht, denn auch Eileen wollte wissen, was mit Easy gelaufen war.
»Dass er einfach vorbeigekommen ist! Wahnsinn!«, kicherte sie. »Ich an deiner Stelle wär durchgedreht.«
Ich musste jede Einzelheit erzählen: was Easy gesagt und gemacht hatte, wie meine Eltern reagiert hatten und was Sam dazu meinte.
Wilkes sah ein paarmal her, deshalb flüsterten wir ganz leise und behalfen uns zwischendurch mit Zetteln.
Eileen wiederum war gestern Abend mit Timo ausgegangen und berichtete aufgeregt, was er angehabt und gesagt hatte.Ich freute mich darauf, nach der Schule mit ihr zur Orchesterprobe zu gehen.
In der Pause erzählte ich ihr, dass mir die Sache mit Tibby zu schaffen mache und dass der Ofen bei ihr zu Hause kaputt sei.
»Sie ist krank und das bei der Kälte im Haus.«
»Bestimmt ist der Ofen inzwischen repariert«, versuchte Eileen mich zu beruhigen.
»Möglich. Trotzdem hab ich ein ungutes Gefühl. Seit unserem Streit im
Sisters
herrscht ziemliche Funkstille bei uns. Trotz Tibbys Entschuldigungsmails. Ich versteh einfach nicht, warum sie so gut wie nie ans Telefon geht. Einerseits ärgert mich das, aber irgendwie mache ich mir auch Sorgen.«
»Schick ihr doch eine SMS«, schlug Eileen vor. »Und mach dir keinen Kopf. Wenn irgendwas passiert wäre, wüssten wir es längst.«
»Sie mailt auch nicht«, redete ich weiter. »Womöglich hat sie was Schlimmes. Liegt mit Lungenentzündung im Krankenhaus oder so.«
»Dann wär’s nur logisch, dass du nichts hörst. Als du krank warst, hast du dich auch tagelang nicht gemeldet. Weißt du was, wir schauen heute Nachmittag kurz bei ihr vorbei, dann geht es dir bestimmt besser.«
Das fand ich superlieb von Eileen.
Nach der Schule kauften wir eine Packung von Tibbys Lieblingskeksen und kurz darauf standen wir vor ihrem Haus mit dem jetzt kahlen Rosenbogen.
»Nicht direkt einladend«, meinte Eileen.
»Im Sommer ist es hier einfach traumhaft«, sagte ich. »Dann blüht ein Wasserfall von Rosen, und das Geißblatt duftet so herrlich, wie du dir es nicht vorstellen kannst.«
»Fällt schwer«, gab Eileen zu. »Guck mal, da.« Sie deutete auf den langen Riss in der Fassade.
Weil die Haustür abgeschlossen war, klopfte ich.
Tibby machte auf.
»Hallo«, sagte sie matt. »Kommt rein.«
Sie schlurfte vor uns her in die Küche. Dort war es nicht mehr so kalt, dafür schlug uns ein strenger Geruch entgegen: eine Mischung aus angebranntem Essen und Hasch.
Eileen rümpfte die Nase.
Ich gab Tibby die Kekse.
»Oh, danke.« Sie legte sie achtlos auf die Spüle. Normalerweise hätte sie die Packung sofort aufgerissen und wir hätten die Kekse zusammen verdrückt.
»Wollt ihr was trinken?«, fragte sie mechanisch, so als wäre ihr die Antwort egal.
»Nein danke. Wir müssen gleich
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