Flüstern in der Nacht
Ja, sie schienen mir ganz gesund, nur winzig klein.« »Wie lange blieb Katherine bei Ihnen?« fragte Hilary. »Beinahe zwei Wochen. Sie brauchte so lange, um nach einer so schweren Geburt wieder zu Kräften zu kommen. Und die Babys mußten hochgepäppelt werden.«
»Hat sie beide Kinder mitgenommen, als sie Ihr Haus verließ?« »Selbstverständlich. Schließlich führte ich ja keinen Kindergarten. Ich war froh, sie gehen zu sehen.«
»Wußten Sie, daß sie vorhatte, nur einen der Zwillinge mit nach St. Helena zu nehmen?« fragte Hilary. »Ja, ich wußte, daß sie das beabsichtigte.« »Hat sie Ihnen gesagt, was sie mit dem anderen Jungen vorhatte?«
»Ich glaube, sie wollte ihn zur Adoption freigeben«, erklärte Mrs. Yancy.
»Sie glauben?« fragte Joshua entrüstet. »Haben Sie sich denn überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, was aus diesen zwei hilflosen Babys in den Händen einer Frau werden sollte, die geistig ganz offensichtlich nicht normal schien?« »Sie hatte sich erholt.« »Unsinn.«
»Ich sage Ihnen, wenn Sie ihr auf der Straße begegnet wären, hätten Sie nie geglaubt, daß sie irgendwelche Probleme hätte.« »Aber, Herrgott, unter dieser Fassade –« »Sie war die Mutter«, erklärte Mrs. Yancy steif. »Sie hätte ihnen nie etwas angetan.«
»Dessen konnten Sie nicht sicher sein«, entgegnete Joshua. »Doch, das war ich«, erklärte Mrs. Yancy. »Ich hatte stets den höchsten Respekt für Mutterliebe und Mutterschaft. Die Liebe einer Mutter kann Wunder wirken.«
Wieder mußte Joshua an sich halten, um ihr nicht an die Gurgel zu springen.
»Katherine hätte das Baby unmöglich zur Adoption weggeben können«, mischte sich Tony ein. »Nicht ohne Geburtsurkunde, nicht ohne Beweis, daß es sich um ihr Kind handelte.« »Damit bleiben eine Reihe unliebsamer Möglichkeiten, die wir in Betracht ziehen müssen«, meinte Joshua.
»Ehrlich, ich kann nur über Sie staunen«, sagte Mrs. Yancy, schüttelte den Kopf und kraulte ihre Katze. »Sie wollen immer das Schlimmste glauben. Ich hab' noch nie drei größere Pessimisten erlebt. Haben Sie je daran gedacht, daß sie den kleinen Jungen vielleicht auf irgendeine Türschwelle hätte legen können? Wahrscheinlich hat sie ihn zu einem Waisenhaus oder vielleicht zu einer Kirche getragen, an irgendeinen Ort jedenfalls, wo man ihn gleich finden und sich um ihn kümmern würde. Ich kann mir vorstellen, daß er von einem anständigen jungen Paar in einem guten Haus aufgezogen wurde, dort viel Liebe fand, eine gute Ausbildung erhielt und auch sonst alles, was er brauchte.«
Im Speicher wartete Bruno Frye auf den Anbruch der Nacht, gelangweilt, nervös, einsam, manchmal benommen, aber häufiger gehetzt; den größten Teil des Nachmittags verbrachte er damit, mit seinem toten Ich zu reden. Er hoffte, damit sein aufgewühltes Bewußtsein zu beruhigen und wieder ein Ziel vor Augen zu bekommen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Er entschied, ruhiger, glücklicher und weniger einsam zu sein, könnte er seinem anderen Ich wenigstens in die Augen sehen, wie früher in den alten Tagen, wo sie oft dagesessen und einander eine Stunde und länger angestarrt hatten, sich ohne Worte verstanden, eins waren. Er erinnerte sich an den Augenblick in Sallys Bad, erst gestern, als er vor einem Spiegel stehengeblieben war und sein Abbild für sein anderes Ich gehalten hatte. Als er in jene Augen blickte, die er für die seines anderen Ichs hielt, hatte er sich herrlich gefühlt, fast ein Wonnegefühl entwickelt, jedenfalls ein Gefühl des Friedens. Jetzt sehnte er sich verzweifelt danach, jenen Zustand wieder einzufangen. Und wieviel besser war es doch, in die echten Augen seines anderen Ichs zu sehen, selbst wenn sie jetzt ausdruckslos und tot starrten. Aber das andere Ich lag mit fest geschlossenen Augen auf dem Bett. Bruno berührte die Augen des anderen Bruno, des toten; sie waren kalt, und ihre Lider wollten sich unter seinen sacht tastenden Fingerspitzen nicht bewegen. Er betastete jene fest geschlossenen Augen und spürte verborgene Nähte in den Augenwinkeln, winzige Knoten, mit denen Fäden die Lider festhielten. Von der Aussicht erregt, die Augen des anderen wieder sehen zu können, erhob sich Bruno und hastete die Treppe hinunter, suchte nach Rasierklingen, einer Nagelschere oder Nadeln und anderen provisorischen chirurgischen Instrumenten, die sich vielleicht dazu eignen könnten, die Augen des anderen Bruno wieder zu öffnen.
Falls Rita Yancy noch weitere
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