Flug 2039
Ausgabe des DSM stehen die Korrekturen zur vorigen Ausgabe. Schon haben die Regeln sich geändert.
Hier die neuen Definitionen des Akzeptierbaren, des Normalen, des Gesunden:
Das Ausbleiben des männlichen Orgasmus heißt jetzt Orgasmusstörungen des Mannes.
Die gute alte psychogene Amnesie heißt jetzt dissoziierte Amnesie.
Angstträume heißen jetzt Albträume.
Auch die Symptome ändern sich von Ausgabe zu Ausgabe. Nach irgendeinem neuen Maßstab werden aus gesunden Menschen kranke. Leute, die man früher geisteskrank nannte, sind plötzlich der Inbegriff geistiger Gesundheit.
Ohne anzuklopfen, tritt der Agent mit den Morgenzeitungen bei mir ein und erwischt mich beim Lesen im Bett. Ich sage: Sehen Sie mal, was mit der Post gekommen ist, worauf er mir sofort das Buch aus der Hand reißt und fragt, ob ich schon mal was von belastendem Material gehört habe. Er liest den Namen der Sozialarbeiterin auf der Innenseite des Umschlags und fragt: »Schon mal was von Mord gehört?« Er hält das Buch in einer Hand und schlägt mit der anderen darauf herum. »Wissen Sie, was es heißt, auf dem elektrischen Stuhl zu sitzen?«
Klatsch.
»Ist Ihnen klar, wie sich eine Verurteilung als Mörder auf die Kartenverkäufe für Ihre Veranstaltungen auswirken wird?«
Klatsch.
»Schon mal was von vernichtendem Beweismaterial gehört?«
Keine Ahnung, wovon er da redet.
Das Geräusch der Staubsauger auf dem Flur macht mich träge. Es ist fast Mittag, aber ich liege immer noch im Bett.
»Ich rede hiervon«, sagt der Agent und hält mir das Buch mit beiden Händen unter die Nase. »Von diesem Buch«, sagt er. »So was könnte die Polizei für ein Erinnerungsstück an den Mord halten.«
Der Agent sagt, täglich tauchten bei ihm Polizisten auf, die mich zu der tot aufgefundenen Sozialarbeiterin befragen wollen. Täglich frage das FBI bei dem Agenten nach, was aus dem DSM geworden sei, das eine Woche vor ihrem Chlorgas-Tod zusammen mit den Akten ihrer Klienten verschwunden ist. Die Regierung sei gar nicht glücklich darüber, dass ich vom Tatort geflohen sei. »Wissen Sie eigentlich, dass Sie mit einem Bein im Gefängnis stehen?«, sagt der Agent.
Ob ich schon mal was von Mordverdacht gehört habe?
Ob mir bewusst sei, in was für eine Lage mich der Besitz dieses Buches bringen könne?
Ich sitze im Bett und esse Toastbrot ohne Butter und Haferschleim ohne braunen Zucker. Ich recke ihm die Hände entgegen und sage: Vergessen Sie’s. Immer mit der Ruhe. Das Buch ist mit der Post gekommen.
Der Agent fragt, ob mir das nicht irgendwie mehr als nur ein wenig gelegen komme.
Offenbar hält er es für möglich, dass ich mir das Buch selbst geschickt habe. Das DSM sei immerhin ein Erinnerungsstück an mein früheres Leben. So schlimm es bei all den Medikamenten und dem engen Terminplan und meiner Nullmoralität auch sein mag, ich zu sein, ist es so immer noch besser als tagaus, tagein Toiletten zu putzen. Und es ist ja nicht so, als hätte ich noch nie etwas gestohlen. Ein weiterer guter Trick, etwas aus einem Laden zu stehlen, geht so: Man sucht sich etwas aus und entfernt das Preisschild. Am besten funktioniert das in sehr großen Kaufhäusern mit so vielen Abteilungen und Angestellten, dass kein einzelner dort mehr den Durchblick hat. Man nimmt sich einen Hut, Handschuhe oder einen Schirm, entfernt das Preisschild und gibt die Ware im Fundbüro ab. Man verlässt also nicht einmal den Laden damit.
Falls der Laden bemerkt, dass die Ware zum Inventar gehört, wird sie wieder zum Verkauf gebracht.
In der Regel aber bleibt sie im Fundbüro, und wenn sie dort nicht binnen dreißig Tagen abgeholt wird, gehört sie dir.
Und da niemand sie verloren hat, wird niemand danach fragen.
Kein großes Kaufhaus setzt ein Genie ins Fundbüro.
»Schon mal was von Geldwäsche gehört?«, fragt der Agent.
Das wäre auch so ein Trick. Als ob ich die Sozialarbeiterin getötet und mir das Buch dann selbst mit der Post geschickt hätte. Es gewaschen hätte, sozusagen. Als ob ich es mir selbst geschickt hätte, damit ich jetzt als Unschuldslamm auf meinen mit Batist aus ägyptischer Baumwolle bezogenen Kissen sitzen und mich, derweil ich bis Mittag frühstücke, an meiner Mordtat weiden kann.
Der Gedanke, irgendetwas in die Wäsche zu tun, weckt in mir die Sehnsucht nach dem Geräusch, das Kleidungsstücke mit Reißverschlüssen in der Trommel eines Wäschetrockners machen.
Hier in meiner Hotelsuite muss man nicht lange nach einem Motiv suchen. In
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