Flugasche
einer Stunde aus dem Haus, käme auch nicht wieder.
»Entschuldigen Sie, könnten Sie bitte aufstehen, wir möchten wippen«, sagt ein Mädchen. Ich ziehe um auf einen alten Autoreifen. Strutzer hatte mich kurz nach dem Mittagessen angerufen und gesagt, er wolle den Beitrag über B. lesen, ich solle ihn gleich nach vorne bringen. Auf meinen Einwand, der Text müsse erst mit dem Betrieb abgestimmt werden, reagierte er ungewöhnlich scharf. Genau darum ginge es, sagte er mit vieldeutiger Schwingung in der Stimme. Jemand mußte ihn über Form und Inhalt des Beitrages informiert haben, obwohl ihn niemand kannte, außer Luise, Günter Rassow und der Sekretärin, die ihn abgeschrieben hatte. Ich brachte das Manuskript zu Rudi, bat ihn, es selbst zu lesen, ehe er es an Strutzer weitergab, und wartete. Nach drei Stunden ließ mich Strutzer rufen.
Der Sohn steht vor der Wippe, verfolgt neidisch das Auf und Ab des Balkens und das Gekreisch der Mädchen. »Ich will auch wippen.«
»Laß mich in Ruhe. Ich will endlich weg hier.«
»Ich hab doch gar nichts gemacht«, sagt er erschrocken.
»Mir ist kalt, hör auf zu heulen.«
»Ich muß aber weinen, wenn du so schreist.«
»Ich auch.«
Vielleicht hätte ich mir kein Kind anschaffen sollen. Immer das Gefühl, ihm etwas vorzuenthalten, was ihm zusteht. Das Kind nicht belasten, sagt Ida. Ich will nicht von morgens bis morgens Theater spielen, mit ihm leben wie mit einem Fremden, um eines Tages, wenn er erwachsen ist, wie die meisten Mütter als Lügnerin entlarvt zu werden, weil er entdecken wird, daß ich, als er mich für ein gütiges Neutrum hielt, eine Frau war, die mit Männern schlief, heulte, verzweifelt war oder glücklich. Es gibt Männer, die bis an ihr Lebensende nicht begreifen, wie es zu ihrer Geburt kommen konnte, weil sie es nicht wagen, ihren Müttern in Gedanken die Kleider auszuziehen. Und wenn sie es wagten, fänden sie nur noch verrunzelte, alte Frauen. Die meisten durchschauen die Scheinheiligkeit ihrer Mütter; sobald sie das erste Mal mit einer Frau geschlafen haben, stellen sie sich ihre gespreizten Beine vor und ihre Seufzer, in die Kissen gestöhnt, damit die Kinder sie nicht hören. Sie begreifen, wie ungeheuerlich sie belogen wurden, wie gewieft die Erwachsenen sind, wenn es darum geht, ihre Geheimnisse zu hüten, mit welchem Talent sie sich verstellen können. Lange zurückliegende geheimnisvolle Szenen klären sich auf. Erschrockene Gesichter, hastig verschlossene Türen, verlegenes Lächeln des Vaters. Für die Zukunft sind sie gewarnt, aufgeklärt über die Perfektion im Lügen, die sie noch zu lernen haben. Sie beobachten die Erwachsenen genauer, besonders die Mütter, die haben am besten gelogen, aus der Nähe. Gierig und verächtlich registrieren sie jedes unstimmige Wort, glauben selbst die Wahrheit nicht mehr. Mein Sohn ist mir fremd geworden, klagen die Mütter. Aber sie haben in Zeitschriftenartikeln etwas über die Gesetzmäßigkeit dieser Phase gelesen und wundern sich nicht … Bis ihre Söhne ihnen Jahre später als Männer gegenübertreten, geläutert durch die eigene Lüge, die sie inzwischen beherrschen. Sie haben ihren Müttern verziehen, daß sie Frauen sind.
Ich will nichts von ihm fernhalten, was mich betrifft, ich hätte nur ihn von mir fernhalten, ihn rechtzeitig entfernen können. Als er geboren wurde, habe ich vor Glück geheult und konnte wochenlang nur einschlafen mit dem Kind neben mir, bis ich sicher war, er würde nicht plötzlich aufhören zu atmen.
»Gehen wir nach Hause?« fragt er ängstlich, als er merkt, ich schlage den Hauptweg in Richtung Ausgang ein.
Mir graut selbst davor, den Rest des Tages mit Selbstgesprächen zu verbringen. Jemanden besuchen, in eine Familienidylle einbrechen, gemeinsames Kaffeetrinken, Gespräche über Kinder, Redaktionstratsch. Zu meiner Mutter. Das mahnende Gesicht: du neigst wirklich dazu, alles grau in grau zu sehen, langatmige Erzählung über das Fernsehprogramm von gestern. Christian fehlt mir.
Seit meinem letzten Besuch bei ihm haben wir uns nicht mehr gesprochen. Erst macht er irrsinnige Vorschläge, und wenn einer leichtsinnig genug ist, sie zu befolgen, läßt er ihn im Ärger sitzen. Aber vielleicht wartet er auf mich, hofft, daß ich komme, einfach klingle, da bin ich, es ist nichts gewesen, wir sind, die wir vorher waren, und ich brauche dich jetzt.
»Du bist ein Idiot«, sagte Christian.
»Warum ich? Du hast gesagt: Schreib zwei Varianten.«
»Na und? Hast du
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