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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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nie wieder für ein Mädchen interessiert, auf das ein Großer ein Auge geworfen hatte. Er konnte sicher unterscheiden, wer ein Großer war und wer ein Kleiner. In der Illustrierten Woche gehörte Strutzer zu den Großen.
    Durch den Gang liefen sie hintereinander, schweigend. Auch während Luise die Tür zu ihrem Zimmer aufschloß, schwiegen sie. Nachdem Luise die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, holte Josefa tief Luft. »Die fette Qualle.« Luise lachte. Dann wies sie mit dem Kopf auf die weiße Wand. »Sprich mal ein bißchen leiser.« Luise holte ihre Zellophantüte aus der Handtasche, schob eine kleine schwarze Lakritzenkatze in den Mund und steckte die Tüte wieder ein, ohne Josefa daraus angeboten zu haben. »Man müßte wissen, ob Rudi das gelesen hat oder nicht. Wenn er es nicht gelesen hat, haben wir noch eine Chance. Wenn er es gelesen hat, wissen wir, warum er heute nicht da ist.« Sie griff nach dem Telefon. »Hol uns mal Kaffee«, sagte sie, während sie Rudis Nummer wählte. Wenn Luise kein Publikum duldete, überstieg ihr Vorhaben vermutlich sogar ihr eigenes Maß. Luise wartete mit dem Wählen der letzten Ziffer, bis Josefa das Zimmer verlassen hatte.
    Armer Rudi, jetzt fängt sie dich. Josefa rannte durch den weißen Gang. Der Gang war lang. Wenn sie langsam lief, erschien er ihr noch länger. Josefa hatte sich angewöhnt, grundsätzlich jeden, der ihr auf dem Gang begegnete, zu grüßen, seit ihr eine Sekretärin in gekränktem Ton Arroganz vorgeworfen hatte. Josefa hatte die Sekretärin nicht gegrüßt, weil sie sicher war, sie vor einer Stunde schon einmal auf dem Gang getroffen zu haben. Das sei nicht vor einer Stunde, sondern vor einem Tag gewesen, sagte die Kollegin und blieb von Josefas Dünkel überzeugt.
    Auf dem Gang waren alle Tage gleich. Die weiße, endlose Eintönigkeit, Kaffeegeruch, klappende Türen. Nichts, das einen Tag von dem anderen unterschieden hätte. Der Großraum gab Gedächtnishilfen durch leere oder besetzte Schreibtische: An dem Tag war Günter nicht da, also Donnerstag. Auch das Wetter half: der Tag, an dem das Gewitter war.
    Josefa glaubte nicht, daß Rudi krank war. Sie war sicher, er hatte den Beitrag am Freitag gelesen, sein geschulter Sinn für aufsteigende Konfrontation hatte ihn gewarnt, und Rudi hatte sich entzogen. Jetzt saß er still in seinem Mauseloch und übersetzte Kinderbücher. Rudi sprach englisch wie ein Engländer, und in seiner freien Zeit oder wenn er krank war, übersetzte er englische Kinderbücher, obwohl, wie Rudi sagte, der englische Humor nicht zu übersetzen war, schon gar nicht ins Deutsche. Wenn Rudi bei seiner Arbeit eine Formulierung fand, die ihm besonders komisch erschien, benutzte er sie mit kindlicher Freude oft tagelang, sobald er eine Gelegenheit sah. Keine seiner Übersetzungen hatte Rudi je einem Verlag angeboten. Die meisten Bücher hatte schon ein anderer vor ihm übersetzt, in der Regel schlecht, sagte Rudi.
    Rudi wird sich ein Violinkonzert von Mozart aufgelegt haben. Neben ihm steht eine große Kanne Tee, nicht zu stark. Und wenn Rudi ein Wort sucht, das ähnlich komisch klingen soll wie das englische, das zu übertragen ist, sieht er dabei aus dem Fenster in seinen Garten, in dem hohe Kiefern stehen und kahle Pappeln. Hin und wieder werden sich ihm Gedanken aufdrängen an Luise, an Strutzer und an die 180 Tonnen Flugasche, vor denen er sich verkriecht, und Rudi muß sich anstrengen, die Gedanken wegzudenken. Zum Mittag kocht er sich eine Suppe, Spargelcreme- oder Champignoncremesuppe für seinen kranken Magen. Wenn Rudi Goldammer nicht krank ist, läßt er sich jeden Tag um dreizehn Uhr in das Restaurant »Ganymed« fahren, um dort seine Suppe zu essen. Keine Suppe in ganz Berlin sei so gut wie die aus dem »Ganymed«, sagt Rudi. Wenn er keine Zeit hat, selbst hinzufahren, läßt er sich die Suppe von seinem Kraftfahrer holen. Rudis absonderliche Gewohnheit war oft das Thema heimlicher Kritik unter den Mitarbeitern der Illustrierten Woche, die Rudi Allüren vorwarfen und Mißbrauch seiner Funktion. Manche lachten über ihn. Josefa verstand Rudis Suppentick. Rudi hatte Hunde gefressen, obwohl er Hunde gern hatte. Er hatte sie gefangen, ihnen das Fell abgezogen, hatte sie gekocht oder gebraten und hatte damit die Genossen ernährt, die sonst verhungert wären. Manchmal hatte er auch selbst von den Hunden gegessen. Wenn er die Geschichte erzählte, lachte er, tröstete uns und sich, es seien schließlich Nazihunde gewesen,

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