Flugasche
hatte. Langsam wurde ihr bewußt, welcher Tag das war, an dem sie um neun Uhr im Nachthemd ruhig am Fenster stehen durfte, statt den Sohn längst im Kindergarten abgegeben zu haben und auf ihrem Platz im Großraum der Illustrierten Woche zu sitzen. Die Erkenntnis wirkte sich als ein wundes Gefühl im Magen aus, das anhaltend stärker wurde und ihr Übelkeit bereitete. Sie putzte sich die Zähne, wusch sich flüchtig, zog an, was ihr als erstes unter die Finger kam, ließ das Bettzeug liegen und brachte das Kind in den Kindergarten. Auf dem Weg kaufte sie Zigaretten und vorsichtshalber eine Flasche Rotwein, falls sie nicht wieder einschlafen könnte und ihr das Warten auf Luises Anruf unerträglich würde.
Sie überlegte, ob sie heizen sollte, denn nachts fielen die Temperaturen noch auf null Grad, und die Wohnung unter dem Dach kühlte schnell aus. Aber sie hätte erst in den Keller gehen müssen, um Kohlen zu holen, und da sie sich ohnehin vorgenommen hatte, den Tag im Bett zu verbringen, verzichtete sie auf den Luxus einiger zusätzlicher Wärmegrade. Sie setzte Kaffeewasser auf, zog sich wieder aus, stellte eine Tasse, die Zuckerdose, den Wein und ein Glas auf den kleinen Hocker neben dem Bett, räumte herumliegende Kleidungsstücke in den Schrank und wartete auf das Pfeifen des Teekessels. Es war neun Uhr vierzig. In drei Stunden und zwanzig Minuten sollte die Sitzung beginnen. Wahrscheinlich würden sie zehn Minuten warten, ehe sie jemanden beauftragten, bei ihr anzurufen, um nachzufragen, wo sie bliebe. Nur Luise wußte, daß sie nicht kommen würde, und Luise würde es nicht sagen. Sie wird sich, wenn die anderen unruhig werden, bereit erklären, Josefa anzurufen, um festzustellen, ob sie krank war oder auf dem Wege in die Redaktion. Dann wird sie zurückgehen in den großen Versammlungsraum, in dem sie sich zusammengefunden haben, um über das unverantwortliche Verhalten der Genossin Nadler zu befinden, und wird den Anwesenden mitteilen, was sie schon gestern vereinbart hatten: Die Genossin Nadler hält es für sinnlos, an dieser Versammlung teilzunehmen. Sie bittet darum, ohne sie zu beraten.
Was ging es sie noch an, wenn sie an ihrem hufeisenförmigen Versammlungstisch saßen, auf würdige, dem schwerwiegenden Ereignis angemessene Mienen bedacht, als trügen sie einen zu Grabe, der ihnen viel bedeutet hatte. Sie hatten ihre Trauerreden vorbereitet, ihre Kummergesichter vor dem Spiegel geübt, sie hatten die Kneipe verabredet, in der sie später auf die Seele der Verblichenen anstoßen wollten. Aber die Leiche würde nicht erscheinen. Die Beerdigung mußte ohne sie stattfinden.
Josefa goß den Kaffee ein und legte sich wieder ins Bett. Es bereitete ihr eine geheime Genugtuung, das Verbotenste und Unverschämteste zu tun, das jemand in ihrer Lage tun konnte. Zu oft hatte sie in den vergangenen sechs Wochen den anderen und auch sich selbst erklären müssen, was eigentlich geschehen war, das sie ausgestoßen hatte aus ihrer Gemeinde, warum sie die Leiche war und die anderen trauern mußten. Sie hatte ihnen von Hodriwitzka erzählt, von der Stadt, in der er lebte, diesem gottserbärmlichen Drecksnest, von den hundertachtzig Tonnen Flugasche, die täglich darauf fielen. Jetzt war sie müde. Aber sie konnten sich nicht satthören an Erklärungen, wollten immer wieder gesagt bekommen: Nein, ich ändere das Manuskript nicht, ja, ich habe einen Brief an den Höchsten Rat geschrieben, ich habe recht, ich habe recht, ich habe recht, als könnte Josefa sie entschädigen für die Sätze, die sie selbst nie gesagt hatten.
Josefa stand auf, um sich ein Buch aus dem Regal zu holen, obwohl sie wußte, daß sie kaum darin lesen würde. Sie kämmte sich vor dem ovalen Spiegel, verwundert über ihr eigenes Gesicht, das nicht anders aussah als vor sechs Wochen, vielleicht ein wenig magerer. Das war also die, der das alles passierte, breite Backen- und Kieferknochen, graue Augen, die schräggeschnitten sein sollten, was Josefa selbst nie feststellen konnte, ein normal großer Mund, den sie verdächtigte, zu schmal zu sein, eine leicht gebogene Nase mit einer abgeflachten Spitze, glattes Haar, das bis auf die Schultern reichte. Der Lärm anfahrender Motoren drang durch das offene Fenster hinter ihre Stirn, sie fror, schloß das Fenster, ging wieder ins Bett, sagte sich, daß sie hier war, weil sie hier sein wollte. Es ging sie nichts mehr an. Es wunderte sie nachträglich, wie lange sie es haben mit ihr machen können, sie
Weitere Kostenlose Bücher