Flugasche
ihre Zähne waren noch länger. Die Augen der alten lagen in zerklüfteten Höhlen wie in Kratern und glänzten fiebrig. Die jüngere weinte immer noch. Die alte nahm einen Stock und schlug damit auf den Kopf der jüngeren. Die jüngere hörte auf zu weinen und zog ihre Perücke zurecht, die unter den Schlägen verrutscht war. Die alte lachte und hielt sich den Bauch vor Lachen. Dann holte sie aus dem Schrank, der hinter dem Vorhang stand, eine Flasche Schnaps, goß zwei Gläser voll und gab ein Glas der jüngeren. Der Schnaps war lila. Sie tranken ihn in einem Zug. Die jüngere setzte sich der alten auf den Schoß, streichelte ihr die faltigen Wangen und sagte mit einer quengligen Kinderstimme: »Ich kann immer noch nicht schreiben, Mama.« Die Alte ordnete die Schleife am Zopf der jüngeren.
»Du hast noch Zeit«, sagte sie, »du bist noch nicht einmal achtzig.«
»Ich will so gerne lesen können«, sagte die jüngere, »es ist so langweilig.«
»Du hast deine Bilderbücher.«
»Ich will nicht immer in dem Zimmer sein, Mama, es ist so lila.«
Die jüngere sprach jetzt mit der brüchigen Stimme einer Greisin. Sie kniete vor der alten nieder und faltete ihre runzligen, von großen Leberflecken verunstalteten Hände.
»Bitte, bitte, Mama.«
Aus den Kratern im Gesicht der älteren sprühte es. Sie griff nach einer lila Glasschale und zerschlug sie auf dem Kopf der jüngeren. »Warum lügst du?« schrie sie.
Die jüngere warf sich auf die Erde, daß ihre alten Knochen knackten, und umklammerte die Füße der alten. »Ich habe nicht gelogen«, jammerte sie, »ich habe wirklich nicht gelogen.«
Die alte setzte sich und streichelte der jüngeren, die immer noch auf der Erde lag, die Hand. »Warum sagst du dann: Das Zimmer ist lila?«
»Es sieht so lila aus, Mama.«
Die alte nahm eine lila Scherbe vom Boden auf und schnitt damit der jüngeren in die Hand. »Sieh her«, sagte sie und zeigte auf das Blut, das wie ein dünner roter Faden durch die Runzeln in der Hand der jüngeren lief. »Das ist lila.«
Die jüngere leckte sich das Blut von der Hand.
»Sag zur Strafe zehnmal das Wort«, sagte die alte.
Schnell und monoton sagte die jüngere zehnmal das Wort. Auf Händen und Füßen kroch sie ans Bett, legte sich auf den lila Bettvorleger und schnaubte ihre Nase laut in die seidene Decke, die auf dem Bett lag.
»Das ist brav«, sagte die alte, holte eine Zeitung unter dem Tisch hervor und las. Die Zeitung war lila. Ohne daß die alte es bemerkte, rutschte die jüngere auf dem Bauch langsam an sie heran. Als sie nah genug war, sprang sie wie ein wütender Wolf an die alte und zerriß ihr die Bluse. Die alte hatte keine Brüste. Die jüngere kreischte vor Freude, hüpfte auf ihren dürren Beinen um die alte herum und zeigte mit Fingern auf den mageren knochigen Oberkörper.
Die alte fletschte ihre langen Zähne wie ein Tier. Sie riß die Decke vom Tisch und hängte sie sich um die Schulter. Durch eine Tür, die bislang nicht sichtbar war, trat eine Frau in Schwesterntracht. Die Tracht war weiß. »Er kommt«, sagte sie.
Die jüngere hörte auf zu kreischen, schob ihre Perücke aus der Stirn, hob ihren Rock bis zu den knotigen Knien und stellte sich neben die Tür. Die alte stellte sich vor sie.
Er kam. Er trug einen Zylinder und einen Frack. Beides war schwarz. Er ging vorbei an den Frauen bis in die Mitte des Raumes. Die beiden Alten an der Tür erstarrten wie am Anfang. Auch der schwarze Mann erstarrte. Sie zischten etwas, das Josefa nicht verstehen konnte.
Hinter ihr weinte jemand. Sie drehte sich um, aber es war niemand zu sehen. Niemand war im Theater außer ihr. Das Theater war lila.
Josefa erwachte, weil ihr Sohn weinte. Er hatte Hunger. Sie stand langsam auf, weil, erhöbe sie sich ruckartig, eine schmerzhafte Leere ihren Kopf ausfüllen würde, die sie für mehrere Sekunden erblinden ließe. Sie tröstete den Sohn, brachte ihm Milch und Brot und begann den Tag, der mild und sonnig über den Straßen hing. Josefa blieb am Fenster stehen, sah benommen auf die Straße unter ihr wie auf etwas Unwirkliches, das sie noch nie gesehen hatte. Kleine aufrechte Wesen, die sich geschickt zwischen schnellen Blechkisten hindurchmanövrierten, um die andere Seite der Straße zu erreichen, wo sie alle im gleichen Hauseingang verschwanden, den sie nach einer Weile mit Tüten und Flaschen wieder verließen.
Der Wecker zeigte neun Uhr an, und Josefa überlegte, warum er nicht wie jeden Morgen um sieben geklingelt
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