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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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beschwichtigt und erzogen haben, wie lange sie Monat für Monat ihre Reportagen geliefert hat, von denen sie wußte, daß sie nicht gelogen waren, aber auch nicht wahr. Und wer weiß, wie lange es noch gegangen wäre, hätte Luise sie nicht nach B. geschickt, wären ihr nicht Hodriwitzka und der rothaarige Anarchist begegnet und die anderen mit ihren grauen und weißen Gesichtern.

    Anfangs war es ihr vorgekommen, als seien die Ereignisse wie ein Unfall über sie hereingebrochen. Plötzlich, ohne Warnung, war etwas zu Ende, das sie für sicher gehalten hatte. Sie hatte nicht mehr viel in ihrem Leben für sicher gehalten, seit die Sicherheiten der Kindheit nach und nach ihren Wert verloren hatten; Tadeus, die Ehe schon nicht mehr; dafür das Kind, das Kind und den Beruf. Zuweilen hatte sie der Gedanke geschreckt an die dreißig Jahre, die sie Tag für Tag mit der Straßenbahn bis zur U-Bahn, mit der U-Bahn ins Zentrum fahren sollte, durch den windigen Tunnel laufen, der den Alexanderplatz unterführte, durch die schwere Glastür des Verlagsgebäudes, die sie nur öffnen konnte, indem sie sich mit dem Gewicht ihres Körpers dagegenstemmte, mit dem überfüllten Aufzug in die sechzehnte Etage, das dreißig Jahre lang, bis zur Rente, oder, wenn sie vorher starb, bis zum Tod. Die Vorstellung, ein Montagmorgen im Jahr zweitausend könnte einem beliebigen Montag dieses Jahres gleichen, war unheimlich. Der Gang immer noch weiß, die kleinen Wabenzimmer, der Großraum, andere Gesichter zwischen den Grünpflanzen, keine Luise mehr, kein Rudi Goldammer, immerhin auch kein Siegfried Strutzer. Gleichermaßen hatte es sie beruhigt, zu diesem erdbebenfesten Koloß zu gehören, hin und wieder ihren Namen fett gedruckt in einer Millionenauflage zu lesen, Zeugnis für die Existenz einer gewissen Josefa Nadler, dreißig Jahre alt, geschieden, Mutter eines Kindes. Das alles war vorbei. Spätestens in sechs oder sieben Stunden würde das Telefon klingeln, und Luise würde ihr einen Bericht der Versammlung geben, über deren Ausgang für Josefa kein Zweifel bestand.
    Erst in den letzten Tagen, für die sie Urlaub beantragt hatte, begann sie die Folgerichtigkeit der Ereignisse langsam zu begreifen, denen sie sich wochenlang ausgeliefert gefühlt hatte, gegen die sie wie eine Besessene angerannt war, ohne zu verstehen, daß sie mit der Gesetzmäßigkeit physikalischer Prozesse abliefen. Nachträglich schien es ihr, als hätte keine der Personen, die an dem Drama beteiligt waren, anders handeln können, als sie gehandelt hat. Jeder Schritt war vorgeschrieben, demzufolge berechenbar. Das wußte sie jetzt, da Strutzer bald seinen letzten Monolog in dieser Sache deklamieren würde. Alle lagen sie vor ihr wie sezierte Fische. Luise, Strutzer, Rudi Goldammer, Ulrike, Hans Schütz, sie selbst – alle lagen kunstvoll zerteilt in Köpfe, Gräten, Filets und Häute auf dem hufeisenförmigen Versammlungstisch aus hellem Holz.
    Am Abend ihrer Rückkehr aus B. war sie vom Bahnhof mit einem Taxi zu Christian gefahren. Sie hatte das Taxi vor dem Haus fünf Minuten warten lassen, um nicht allein durch die Nacht laufen zu müssen, falls sie Christian nicht angetroffen hätte. Sie war erst mit dem Zwanzig-Uhr-Zug gefahren, obwohl sie pünktlich um halb sechs, begleitet von Alfred Thal und dem Rothaarigen, auf dem Bahnsteig zwei des Bahnhofs in B. gestanden hatte. Als der Zug einfuhr, fragte der Rothaarige, ob sie nicht lieber noch ein Bier trinken wollten, so jung wie heute, sagte er, und sie wüßte schon. Thal war froh über den Vorschlag des Rothaarigen. Die Zwillinge hätten Disko, und er müsse sonst den Abend allein verbringen mit der Frau. Sie tranken Bier und Klaren im Wartesaal, der überfüllt war von Männern, Tabaksqualm und Lärm. Sie sprachen nicht mehr von Hodriwitzka und dem Kraftwerk. Sie erzählten Geschichten über ihre Kinder, tauschten sich über ihre Lieblingsgerichte aus, der Rothaarige aß am liebsten Milchreis mit Zucker und Zimt, Alfred Thal Sauerbraten mit Klößen, nur Josefa konnte sich für keine Lieblingsspeise entscheiden. Der Rothaarige sagte, er müsse in seinem Leben unbedingt einmal nach Irland, wegen der Iren, die, wie er gehört hätte, alle rothaarig seien und Anarchisten. In Irland würde er bestimmt herausfinden, welcher Zusammenhang zwischen den roten Haaren und dem Charakter einer Person bestünde. Alfred Thal wollte sich sein imaginäres einziges Visum für Griechenland ausstellen lassen, die Kultur, sagte er,

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