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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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die Akropolis, das wolle er gesehen haben vor seinem Tod. Auf dem Bahnsteig sang der Rothaarige noch ein Lied, ein Seemanslied, das ihm sein Onkel beigebracht hatte, der in seiner Jugend zur See gefahren war.
    Seit dem Besuch bei Brommel hatten Christian und Josefa sich nur für die Stunden getrennt, die er im Institut verbringen mußte und sie in der Redaktion. Morgens fragte er ohne nachdrückliches Interesse, ob sie abends zu Hause sei, abends kam er und blieb. Sie verhielten sich zueinander zwanglos und vertraut, wie sie es seit fünfzehn Jahren gewohnt waren. Nur abends, wenn sie sich in Josefas breites Bett legten, verwandelten sie sich in sprachlose Wesen, in fliegende Tintenfische mit Ahornflügeln und gaben preis, was sie bis dahin voreinander geheimgehalten hatten. Die exzessive Sehnsucht, sich aufzulösen in diesem Gefühl, das jede andere Empfindung betäubte; nur dieses eine Stück vom Körper sein, vergessen, wer sie waren, schweigen, um sich nicht zu erinnern, daß unter ihnen nicht der Ozean war. Ihr gemeinsames Leben war streng unterteilt in Tag und Nacht, in Freundschaft und Ekstase. Christian schien nachholen zu wollen, was sie seit dem Milchautomorgen versäumt hatten, und Josefa war verwundert über die Gier, die sich mit seiner Sanftmut mischte, und sie erinnerte sich an keinen Mann, mit dem sie sich ähnlich frei gefühlt hätte. Morgens fiel es ihr schwer, ihre nächtliche Besinnungslosigkeit mit Christian in Zusammenhang zu bringen, der, während sie frühstückten, die Zeitung durchblätterte und Josefa mit sanftem Spott auf ihre müden Augen hinwies.
    Die Nacht, die sie bei Christian verbracht hatte, als sie aus B. kam, war die einzige, an die Josefa sich genau erinnerte, von der sie auch jetzt noch wußte, zu welchem Tag sie gehörte. Für eine Nacht war sie Kreatur gewesen in einem Leben, das nichts zu tun hatte mit der Illustrierten Woche, mit Machtverhältnissen und Ideologien, mit der Willkür der Zeit, in die man geboren wurde. Das alles war nicht das Leben, es waren Spiegelbilder des Lebens, nicht das Leben selbst. Leben war atmen, lieben, essen, Kinder zeugen und gebären, für den Lebensunterhalt sorgen, sonst nichts. Sehnsüchte solcher Art hatte sie schon früher empfunden, aber etwas hatte sie immer zurückgehalten, in den Schatten ihrer Kreatur zu fliehen, das zwanzigste Jahrhundert vor oder hinter sich zu lassen und nur zu sein. Immer war sie von dem Wissen um die Unmöglichkeit solchen Lebens zurückgerissen worden oder auch von dem Verdacht, es sei eine unwürdige Form der Existenz, und das eigentliche Leben bestünde in der Veränderung der Verhältnisse, die man vorfand, für die Dauer seines Daseins. Diese Nacht plötzlich zog eine gerade Linie von ihrer Geburt zu ihrem Tod, teilte Natürliches von Absurdem, und fast alles, was Josefas Beruf ausmachte, fand sie auf der Seite des Absurden, erschien ihr widernatürlich und ausgedacht, um sie und die anderen zu beschäftigen mit einem Sinn, der außerhalb ihres natürlichen Lebens lag. Eine verzweifelte Lust zu lieben befiel sie, die Sucht, Schmerz zu empfinden und Schmerz zuzufügen, und sie liebte Christian, weil er ihr folgte an die animalischen Abgründe, auf die sie zuraste, als fände sie in ihnen die Rettung.
    Sie versuchte, die Gedankenlinie jener Nacht wiederzufinden, sich zu reduzieren auf ein lebendes, fühlendes Wesen. Aber es scheiterte schon an dem Wort reduzieren, warum dachte sie nicht an erheben, sich zu einem lebenden, fühlenden Wesen erheben? Josefa lag mit geschlossenen Augen im Bett, hielt das Buch, in das sie noch keinen Blick geworfen hatte, aufgeschlagen in der linken Hand. Mit der anderen Hand suchte sie auf ihrem Körper die Wege, die Christian in dieser Nacht gefunden hatte, suggerierte sich, es sei Christian, der sie streichelte, erschrak, setzte sich auf, zündete sich eine Zigarette an. Sie konnte das Bild nicht wiederfinden, das zu dieser Vorstellung vom Leben gehörte. Ein kleines Mädchen mit einem langen Zopf und eine Kuh auf einer grünen Wiese hatte sie gesehen, aber stellte sie sich dieses Bild jetzt vor, sah es aus wie eine Postkarte, platt und kitschig, in jener Nacht war es plastisch gewesen, und Josefa hatte es aus einer Perspektive gesehen, aus der das Mädchen und die Kuh sehr klein waren und doch deutlich zu erkennen. Sie wußte, es würde wenig Sinn haben, nach der Klarheit dieser Stunden oder auch nur Minuten zu suchen. Sie hatte sie schon am Tag darauf verloren, als sie mit dem

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