Flugasche
den Arm. »Ich finde auch, daß die Genossin Nadler über die Vorwürfe, die ihr hier gemacht werden, einmal nachdenken muß. Zum Beispiel über ihre Beziehung zum technischen Personal. Ich habe ihr vor einiger Zeit, als ich sehr unter Zeitdruck stand, drei Briefe geschrieben, obwohl ich bekanntlich für die Abteilung Innenpolitik nicht zuständig bin. Ein Wort des Dankes habe ich aber nicht gehört. Wenn es auch nur eine Kleinigkeit ist, aber in Ordnung finde ich das nicht.«
Bis zu diesem Punkt der Beratung erinnerte sich Josefa genau, jedes Wort, jede Geste konnte sie rekonstruieren, Stimmen und Tonfälle wie von einem Tonband abhören. Alles, was danach geschehen war, hatte ihr Gehirn nur als ein Wirrsal aus Erregungen gespeichert, Satzfetzen, die sich hart und scharf aus dem Rauschen hoben, der in dem Rest des Geschehens versunken war. Sie erinnerte sich, gesprochen zu haben. Hans Schütz hatte ihr später erzählt, sie hätte anfangs einen ruhigen, fast kühlen Eindruck gemacht. Mit unerwarteter Demut, sagte Hans Schütz, hätte sie auf die Vorwürfe reagiert, so daß er geglaubt hatte, die Sache könnte noch gut ausgehen. Dann aber, und er hatte seinen Ohren nicht trauen wollen, hätte sie versucht, noch immer in jener schlafwandlerischen Ruhe, die Entstehung des Briefes zu erklären; die schwarze Limousine, der tote Vogel, die Stille, es hätte gespenstisch geklungen, sagte Hans Schütz.
Josefa erinnerte sich an Strutzer. In der Haltung des Siegers hatte er in seinem Stuhl gelehnt und ihr zugehört. Und obwohl Josefa seine Füße nicht hatte sehen können, zeigte ihr die Erinnerung den ganzen Strutzer, aufrecht sitzend, der linke Arm auf der seitlichen Lehne des Stuhls, mehr Zierde als Stütze, die rechte Hand auf dem Oberschenkel, der linke Fuß leicht vorgestellt, König Siegfried in der Herrscherpose. Dann der Satz, von dem Josefa nicht wußte, ob sie ihn damals tatsächlich verstanden hatte oder ob sie ihn nur aus den Erzählungen von Hans Schütz kannte: ›Die Genossin Nadler hat eben selbst den besten Beweis für ihre krankhafte Selbstüberschätzung geliefert.‹
Sie erinnerte den wilden, nicht beherrschbaren Aufruhr, der sie erfaßt hatte, in dem ihr Körper unempfindlich wurde und widerstandslos, ihr so wieder ganz gehörte und gehorchte. – Sie stand am Abgrund. Ein halber Meter trennte sie von dem scharfen Schnitt, der die Erde schied vom Unwägbaren, in das sie zu stürzen drohte, wenn sie sich nicht wehrte gegen die Gestalten, die sie umsprangen und mit langen spitzen Lanzen auf sie einstachen, ziellos Beine, Brust und Bauch trafen, sie vertreiben wollten von ihrer Klippe, auf die sie doch gehörte. Sie war ihrem Körper dankbar, weil er auf sein Recht verzichtete, zu fühlen und zu leiden, damit sie sich gegen die Lanzen werfen konnte mit wilden Schreien, um ihre Bedränger zu verschrecken. Es waren zu viele, als daß Josefa ihre Schläge hätte abwägen können. Sie drehte sich um die eigene Achse und schwang wie eine Keule ihr Recht zu sein, hier zu sein, auf dieser Klippe, betäubte ihre Angreifer durch die Wucht ihrer Schläge, und als sie still waren und von ihr abließen, floh sie, verletzt und hinkend, in eine Höhle am Rande der Klippe, nur über die Steilwand zu erreichen, unerreichbar für jeden, der zurückschreckte vor dem Anblick der Tiefe.
Jetzt, drei Wochen später, hatte das Unwägbare seinen Schrecken für Josefa verloren. Zwischen Decke und Laken gebettet wie zwischen Himmel und Erde und benommen von der Ruhe, die seit einigen Tagen in ihr war, verlor es seine Abgründigkeit, wurde faßbar, denkbar, ordnete sich ein in die Möglichkeiten zu leben. Mehr noch: es ging eine große Verlockung aus von dem Gedanken, sich der Verfügbarkeit, mit der sie von Kindheit an gelebt hatte, zu entziehen, sich abzuwenden von allen fremden Plänen mit ihr. Und der Verdacht, der eher eine Hoffnung war, auf diese Weise wäre ihre Unruhe zu töten, die jede ihrer Handlungen bezichtigte, die falsche zu sein, und der Ausblick, sie könnte dann endlich von sich selbst erfahren, was das Eigentliche war, nach dem sie suchte, was sie, und nur sie, zu tun hatte in den Jahren, die sie leben würde, machten sie heiter.
Damals hatte Josefa zum ersten Mal begriffen, was die Leute meinten, wenn sie von ihrem Privatleben sprachen. Sie hatte bislang nie verstanden, wo die geheimnisvolle Grenze zwischen einem privaten und einem anderen Leben verlaufen sollte, wo das anfing oder endete, das niemanden
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