Flugasche
anging und über das man nicht sprach. Mein Mann, deine Frau, meine Sache, deine Angelegenheit, eine besondere Art von Leben, nur mittels besitzanzeigender Fürwörter beschreibbar, Privateigentum, Betreten verboten, Vorsicht, bissiger Hund. Josefa hatte weder ihre Ehe noch ihr Kind als etwas ansehen können, das zu trennen gewesen wäre von ihrem Leben mit Luise oder Hodriwitzka oder Strutzer.
Damals begann sie, das Doppelleben anderer zu verstehen, wünschte sie selbst, das von ihr gewählte Leben sorgsam zu trennen von dem, das ihr aufgedrängt wurde. Wenn sie abends, in einer Hand das Kind, in der anderen das Einkaufsnetz, über die Treppen in ihre Wohnung stieg, fühlte sie sich am Ziel des Tages angelangt. Für diese letzten Stunden vor dem Einschlafen war sie von morgens an auf der Jagd gewesen. Nun brachte sie die Beute in ihre Höhle, in der sie und ihr Junges sicher waren vor ungebetenen Eindringlingen. Dafür hatte sie unsinnige Leserbriefe beantwortet, den Anblick von Günter Rassows magerem Rücken ertragen, Strutzers Siegerlächeln wehrlos an sich hinabgleiten lassen. Was jetzt begann, gehörte nur ihr, blieb unerreichbar für alle Strutzers. Sie konnte, wenn sie wollte, alle Wände ihrer Wohnung schwarz streichen oder rot oder lila. Sie könnte den ganzen Tag auf allen vieren laufen und bellen wie ein Hund. Sie könnte unflätig und laut auf jeden schimpfen, der ihr gerade in den Sinn käme. Es ginge niemanden etwas an; und sie müßte nicht darüber sprechen. Erstaunt und amüsiert nahm sie zur Kenntnis, daß ewig belächelte Sprüche wie »Klein, aber mein« und »My home is my castle« ihr in die Nähe des Sinnhaften rückten, und sie wehrte sich nicht dagegen.
An manchen Tagen aßen sie zu dritt Abendbrot. Josefa kochte Tee, stellte Kerzen auf den Tisch, verteilte Servietten – eine Neuerung in ihrem Haushalt, die von Christian mit Spott vermerkt wurde. Sie sprach seltener über die Illustrierte Woche, vermied überhaupt Themen, von denen sie befürchtete, sie könnten Spannung oder auch nur Unruhe verbreiten.
Christian hatte ihre plötzliche Veränderung ebenso erleichtert wie verwundert hingenommen. Er war froh, nicht mehr jeden Satz von Strutzer drehen und wenden zu müssen, bis er seine ganze Hinterhältigkeit, die vielleicht nur in Josefas Phantasie existierte, offenbart hatte, zumal Christian der Gedanke bedrückte, Josefas Lage mitverursacht zu haben. Immerhin stammte der Hinweis auf zwei Texte zu einem Thema von ihm. Ihn freute der Ausblick auf weniger aufgeregte Zeiten, in denen er sich wieder häufiger um seine eigene Arbeit kümmern könnte, die er in der letzten Zeit vernachlässigt hatte. Josefa wirkte ausgeglichen, beinahe fröhlich, wenn ihre Ruhe ihm zuweilen auch verdächtig war. Den Gedanken, Josefas Gelassenheit könnte künstlich sein, verdrängte er, denn solange er sie kannte, war sie unbeherrscht und jähzornig, würde also eher in immer neuen Varianten den neben seiner dicken Frau schlummernden Strutzer zerfleischen, als still im Sessel zu kauern und auf den Serienkrimi zu warten.
Nachts im Halbschlaf spürte er oft, wie sie ihn streichelte oder sacht küßte, aber er war zu müde, um noch einmal aufzuwachen oder die Arme nach ihr auszustrecken. Die Gier, die sie während der ersten Wochen bis in die Morgenstunden wachgehalten hatte, war gesättigt. Auch die Angst, auf diese eine Nacht könnte keine nächste folgen, hatte sie verlassen. Josefa lag allein mit ihren Träumen, blutrünstigen Phantasien, gespielt von schaurigen Gestalten und teuflischen Fratzen, die sie quälten und die sie noch verfolgten, wenn sie die Augen öffnete und in das leere Laternenlicht hinter den Fenstern blickte. Dann wollte sie Christian anfassen, die warme Haut, die Brust, die sich hob und senkte, Lebendiges neben ihr. Irgendwann schlief sie ein.
Morgens, wenn sie gemeinsam frühstückten, erzählte sie ihm ihre Träume, nicht alle, nur die, die ihr wichtig erschienen. An einen Traum, einen besonders schrecklichen, erinnerte sie sich genau.
Sie war an diesem Morgen erwacht, lange bevor sie aufstehen mußte, in der Zeit zwischen Nacht und Morgen. Nur eine Straßenbahn ratterte schnell und hemmungslos lärmend durch die Stille, und Josefa glaubte an dem Geräusch, das sie verursachte, erkennen zu können, daß die Bahn leer war. Sie ging in die Küche, trank eiskaltes Selterswasser, überlegte, was sie essen wollte, biß zweimal von einer sauren Gurke ab und legte sich wieder hin. Christian
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