Flut: Roman (German Edition)
sanfter Gewalt zur Seite, bevor er – ungeschickt, aber sehr schnell – über die Rückenlehne nach hinten kletterte und in seiner Muttersprache auf ihn einzureden begann. Natürlich verstand Rachel nicht, was er sagte, aber ein beruhigender Tonfall war ein beruhigender Tonfall, in jeder Sprache der Welt, und nach einer Weile reagierte der Verwundete darauf. Er hob den Kopf, sehr langsam, als bereite ihm schon diese winzige Bewegung unendliche Mühe, und Rachel erschrak zutiefst, als sie in sein Gesicht blickte. Alle Farbe war daraus gewichen, Stirn und Wangen waren von feinperligem Schweiß bedeckt, der irgendwie ölig aussah, und seine Lippen waren blau, wie bei einem Ertrinkenden. Die Augen hatten einen trüben Glanz, der vom Fieber herrühren mochte, vielleicht aber auch von irgendeinem schmerzstillenden Medikament, das man ihm verabreicht hatte. Er sah Benedikt an, aber Rachel war eigentlich sicher, dass er ihn nicht erkannte.
Sie suchte vergeblich nach irgendeinem Gefühl in sich, das über Mitleid oder pures Entsetzen hinausging. Sie hatte nicht erwartet, Befriedigung oder gar Schadenfreude zu empfinden, aber nun stellte sie fast zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass ihr der Söldner nicht nur Leid tat, sondern sie sich so schuldig fühlte, als hätte sie ihm höchstpersönlich den Schraubenzieher in die Schulter gestoßen.
»Kannst du irgendetwas für ihn tun?«
Benedikt zögerte für ihren Geschmack eine Winzigkeit zu lange, ehe er mit einer Mischung aus einem Nicken und einem Achselzucken antwortete; eine Bewegung, die mehr Raum für Deutungen offen ließ, als ihr lieb war.
»Im Handschuhfach liegt eine braune Ledertasche«, sagte er.
Rachel öffnete die Klappe, die zu einem überraschend großen Ablagefach unter dem Armaturenbrett gehörte, und nahm die Ledermappe heraus, um die Benedikt sie gebeten hatte. Bevor sie sie ihm reichte, öffnete sie den Reißverschluss und warf einen ungeniert neugierigen Blick hinein. Sie fand genau das, was sie erwartet hatte: Verbandszeug, Medikamente und eine Anzahl in Cellophan verpackter Einwegspritzen. Die Beschriftung war unleserlich, aber nicht in kyrillischen Buchstaben.
»Brauchst du Hilfe?« Rachel zog den Reißverschluss wieder zu und reichte ihm die Mappe. Benedikt sah sie leicht irritiert an, öffnete ihn wieder und schüttete den Inhalt der Ledertasche kurzerhand neben sich auf die Sitzbank. Der Verwundete folgte seinen Bewegungen mit stierem Blick, aber er musste wohl doch noch bei klarerem Bewusstsein sein, als Rachel bisher angenommen hatte, denn als Benedikt die Hand nach einer der Spritzen ausstreckte, schüttelte er den Kopf und sagte ein einziges, hart klingendes Wort in seiner Muttersprache. Benedikt sah ihn eine Sekunde lang durchdringend an, dann zuckte er die Schultern und griff stattdessen nach einer Schere.
»Bist du sicher, dass du zusehen willst?«
»Nein«, antwortete Rachel, rasch und fast ohne nachzudenken. Es war nicht so, dass sie übermäßig zartbesaitet gewesen wäre oder kein Blut sehen konnte, aber sie hatte eine ungefähre Vorstellung von dem, was kommen würde, und ihr Magen begann schon bei dem bloßen Gedanken zu revoltieren.
»Ich mache einen kleinen Spaziergang. Ist vielleicht einer der letzten schönen Tage. Wer weiß, wie lange das Wetter noch so gut bleibt.«
Benedikt lächelte auf eine Art, die irgendwie pflichtschuldig aussah, schüttelte aber zugleich den Kopf. »Bleib in der Nähe. Vielleicht siehst du dich schon einmal nach einem passenden Wagen für uns um.«
Trotz allem empfand Rachel ein Gefühl leiser Empörung, dass Benedikt sie nun so ganz selbstverständlich als eine Art Komplizin anzusehen schien, aber ihre Entrüstung war nicht groß genug, um sie zum Hierbleiben zu bewegen. Sie stieg aus, blieb einen Moment lang unschlüssig im Regen stehen und entfernte sich dann ein paar Schritte vom Wagen. Es regnete nicht mehr annähernd so heftig wie vorhin, a her immer noch stark genug, dass niemand auf die Idee kam, einen kleinen Spaziergang zu machen; wenigstens niemand, der seine fünf Sinne noch beisammen hatte. Außerdem war es spürbar kälter geworden.
Sie sah nach oben. Die Wolkendecke war unversehrt, aber nicht mehr so pechschwarz wie zuvor, und wenn man genau hinsah, konnte man sogar die Sonne als zerfaserten hellen Fleck dahinter erkennen. Dann und wann blitzte es grell auf; kosmische Geschosse, die in den obersten Schichten der Atmosphäre verglühten, wobei sich das Eis, aus dem sie bestanden,
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