Flut: Roman (German Edition)
Maximum, das das Gerät aufnehmen konnte, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, wer der Großteil der neunundneunzig Anrufer – wenn nicht alle – gewesen war.
Ohne lange darüber nachzudenken, was sie tat, streckte sie die Hand aus und löschte den Speicher des Gerätes. Mit allen wichtigen Menschen, die sie kannte, hatte sie in der vergangenen Woche gesprochen und wer ihr wirklich etwas mitzuteilen hatte, würde ohnehin noch einmal anrufen. Der Rest konnte ihr gestohlen bleiben, vorsichtig ausgedrückt. Auch das war eine Möglichkeit, die sie noch gar nicht in Betracht gezogen hatte: Vielleicht war der junge Mann ja einfach ein Journalist gewesen, der seinen Beruf noch nicht besonders gut beherrschte, oder jemand, der glaubte, sie einfach nur ansprechen zu müssen, um auf diese Weise an ein paar Informationen zu gelangen, die sie all den Profis vor ihm vorenthalten hatte.
Seltsam. Während Rachel in die Küche ging, sich einen Kaffee einschüttete und mit der heißen Tasse in beiden Händen ins Wohnzimmer zurückschlenderte, fragte sie sich, warum diese kleine Episode sie eigentlich so sehr beschäftigte. Sie sollte den Jungen einfach vergessen. Und wäre er ihr unter den gleichen Umständen vor einer Woche begegnet, dann hätte sie das vermutlich auch schon längst getan.
Nein, sie war noch längst nicht darüber hinweg. Und wie konnte sie das auch? Schließlich erlebte sie nicht jeden Tag, dass ein Mensch vor ihren Augen von Gottes Zorn getroffen und wortwörtlich zur Hölle geschickt wurde.
Rachel schaltete den Fernseher ein, setzte sich mit angezogenen Knien in den zerschlissenen Ohrensessel neben dem Kamin und nippte mit kleinen, vorsichtigen Schlucken an ihrem Kaffee. Sie war zu Hause. Auf dem ganzen Weg hierher hatte sie sich fast ein bisschen vor diesem Moment gefürchtet, denn hier war sie nicht nur allein, sondern auch all dem wieder ausgeliefert, wovor sie geflohen war, aber plötzlich spürte sie, wie sehr ihr diese vertraute Umgebung gefehlt hatte. Es hatte gut getan, ja, es war vielleicht sogar lebenswichtig für sie gewesen, sich mit Uschi auszusprechen und für einige wenige Tage einfach so tun, als wäre überhaupt nichts geschehen.
Aber sie war letztendlich noch nie jemand gewesen, der vor Problemen davonlief.
Während sie den zweiten Schluck Kaffee trank und das Gefühl genoss, mit dem sich die Wärme allmählich weiter in ihrem Körper ausbreitete, wanderte ihr Blick zum Fernsehschirm, über den irgendein japanischer Zeichentrickfilm flimmerte; die übliche Geschichte eines Superhelden, der ganz allein die Welt vor irgendwelchen Schurken aus dem Kosmos rettete – wenigstens vermutete sie das. Sie sah dem Film nicht lange genug zu, um sicher zu sein, sondern griff nach der Fernbedienung und schaltete auf ein anderes Programm – mit dem Ergebnis, diesmal die Abenteuer eines halben Dutzends menschengroßer sprechender Mäuse vom Mars mitzuerleben, die gekommen waren, um die Welt vor irgendwelchen Schurken aus dem Kosmos zu retten …
Rachel schüttelte den Kopf, schaltete auf das nächste Pogramm und verfolgte ein paar Sekunden lang die Abenteuer einer sprechenden Ente, die (wie originell!) auf der Flucht vor irgendwelchen Schurken aus dem Kosmos auf der Erde gestrandet war, ehe sie weiterzappte und für zwei oder drei Sekunden mit den Zeichentrickabenteuern von Superman belohnt wurde, der die Erde vor irgendwelchen Schurken aus dem Kosmos beschützte. Rachel wusste für einen Moment nicht, ob sie wütend werden oder laut lachen sollte. Es war Sonntagmorgen, noch nicht einmal sieben – welches Kind saß um diese Zeit vor dem Fernseher und sah sich diesen Schwachsinn an?
Die korrekte Antwort hätte vermutlich gelautet: alle, aber Rachel war nicht in der Verfassung, sich Gedanken über den intellektuellen Zustand der Jugend des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts zu machen: Sie wusste, dass er erbärmlich war. Einmal ganz davon abgesehen, dass es im Moment genügend handfeste Bedrohungen für die Erde aus dem Kosmos gab.
Sie schaltete weiter und fand schließlich einen Nachrichtenkanal. Für eine halbe Sekunde schwebte ihr Daumen unentschlossen über der Fernbedienung. Ihr war nicht nach Nachrichten, aber ihr war noch viel weniger nach Stille, und wenn sie weiterschaltete, würde sie wahrscheinlich weitere Abenteuer japanischer Superhelden erleben, die die Erde vor fiesen Schurken aus dem Kosmos retteten. Sie legte die Fernbedienung aus der Hand, griff stattdessen wieder nach
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