Flut: Roman (German Edition)
normalerweise wie ein fast schnurgerader, schwarzer Abgrund teilte, waren zahllose beleuchtete Boote unterwegs, sodass die Trennlinie zwischen den beiden ungleich großen Hälften allmählich zu verschwinden begann. Die Straßen waren hoffnungslos verstopft, und soweit sie es aus der großen Höhe erkennen konnte (sie war nicht zum ersten Mal erstaunt, wie viele Details man selbst aus fünfhundert Meter Höhe noch auszumachen imstande war), unterschied sich diese Blechlawine von dem allabendlichen Verkehrschaos, in dem Rom traditionell versank: Die Wagen standen Stoßstange an Stoßstange da, der Verkehr war auf den meisten Straßen zum Erliegen gekommen. Hier und da sah sie ein rötliches Flackern, als wäre ein Feuer ausgebrochen, und einmal bemerkte sie eine Prozession aus Hunderten, wenn nicht Tausenden von Menschen, die über einen der zahllosen Plätze Roms pilgerten und Kerzen oder Fackeln in den Händen zu tragen schienen.
»Was ist da unten los?«, fragte sie schließlich.
Sie hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet. De Ville hatte sich bisher in beharrliches Schweigen gehüllt und sich geweigert, ihre bohrenden Fragen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, und es gab keinen logischen Grund, weshalb sich daran jetzt etwas ändern sollte. Zu ihrer Überraschung drehte er jedoch den Kopf nach rechts, sah einige Sekunden lang starr aus dem Fenster und antwortete dann: »Die Menschen spüren es.«
»Was?«
»Das Ende«, sagte De Ville dumpf. »Gottes Strafgericht ist nahe.«
Was für ein Unsinn!, dachte Rachel hysterisch. Sie war beinahe wütend, dass dieser ernsthafte, bisher so vertrauenerweckend und seriös wirkende Mann plötzlich einen solchen Unsinn redete. Gottes Strafgericht und Ewige Verdammnis, das waren Dinge, die Priester während der Sonntagsmesse von der Kanzel herab predigen sollten, um die Jüngeren oder Naiveren unter ihren Schäfchen einzuschüchtern, und selbst das war seit einem guten halben Jahrhundert aus der Mode gekommen.
Aber schon während sie dies dachte, musste sie sich zugleich eingestehen, dass es seiner Erklärung im Grunde gar nicht bedurft hätte. Sie spürte ebenso deutlich wie er, dass irgendetwas im Begriff war zu geschehen, dass etwas kam, etwas Großes und Mächtiges und unvorstellbar Altes, dessen Schatten sich über die Welt gelegt hatte wie der Vorbote eines unaufhaltsamen Unheils. Ihre Welt und ihre Sicht der Dinge hatten sich radikal verändert. Ein winziger Teil von ihr war noch immer die kühle, stets logisch denkende Person, als die sie während der letzten zehn Jahre ihr Leben gemeistert hatte (und die ihr trotz allem geholfen hatte, die zurückliegenden vierundzwanzig Stunden irgendwie zu überleben), aber da war auch noch etwas anderes in ihr, etwas viel Älteres und Subtileres, das keinerlei Erklärung und Begründung brauchte, sondern einfach wusste. Sie schien längst nicht mehr ausschließlich in einer Welt des Begreifbaren und Logischen zu existieren. Die fast kindische Empörung, die sie bei De Villes Worten empfand, war nichts als ein schwacher Versuch der alten Rachel, sich noch einmal an ihr zerbrechendes Weltbild zu klammern.
Das Flugzeug kippte mit einem – wie sie fand, unnötig heftigen – Ruck in die Waagerechte zurück, und Rachel klammerte sich erschrocken an die schmalen, gepolsterten Armlehnen. Die Triebwerke heulten auf und sie konnte die gewaltige Kraft spüren, mit der die Maschine auf einen anderen Kurs einschwenkte und für einen Moment noch einmal an Höhe gewann, um dann aber in einen steilen Sinkflug überzugehen. Ein leichter Ruck ging durch den Boden unter ihren Füßen; der Pilot hatte das Fahrwerk ausgefahren. Die Landung stand unmittelbar bevor. Sie sah wieder nach rechts, aber hinter dem Fenster war jetzt nichts anderes als undurchdringliche Schwärze. Dafür begegnete sie De Villes Blick, und was sie darin las, ließ einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. Aus der dumpfen Verzweiflung, die während der letzten halben Stunde in immer stärkerem Maß von ihm Besitz ergriffen hatte, war nun Hoffnungslosigkeit geworden, eine Resignation, die nichts mit dem Ergeben in ein Schicksal zu tun hatte, dem man nicht entrinnen konnte. Er glaubte nicht wirklich an das, was er tat, dachte sie erschüttert.
Das Flugzeug legte sich abermals in eine sanfte Rechtskurve und verlor dabei so rasch an Höhe, dass sie für einen Moment das Gefühl hatte, sich in einem rasend schnell nach unten gleitenden Aufzug zu befinden. Dann
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