Flut: Roman (German Edition)
streiten, noch sah sie irgendeinen Sinn darin, ihm Schwierigkeiten zu machen. Und vermutlich war es ohnehin so, dass er sie gar nicht verstand.
Sie wandte sich wieder zu Benedikt um. Er hatte mittlerweile auf einem der unbequem aussehenden Stühle Platz genommen und starrte scheinbar ins Leere, aber als sie seinem Blick folgte, wurde ihr klar, dass er das Geschehen auf dem Fernsehschirm betrachtete. Es war nicht zu erkennen, ob er wirklich begriff, was er da sah, und wenn ja, ob er in irgendeiner Form Anteil daran nahm. Sie wollte hingehen und den Apparat ausschalten, überlegte es sich aber dann anders und setzte sich stattdessen an die andere Seite des Tisches.
»Entsetzlich, nicht wahr?«, fragte sie. »Die Welt geht unter.«
Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, aber nachdem zwei oder drei quälend lange Sekunden verstrichen waren, drehte er den Kopf und sah in ihre Richtung. Es war unheimlich. Langsam, so langsam, dass sie dabei zusehen konnte, begann etwas wie Erkennen in seinen Augen aufzuschimmern. Er hob die Hand, ließ sie dann aber mit einer schweren Bewegung wieder fallen, als hätte er nicht mehr die Kraft für diese einfache Geste, und sah wieder zum Fernseher hin. »Ja«, sagte er. »Ich weiß.«
Und plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. In seiner Stimme waren eine Kälte und ein so abgrundtiefes Entsetzen, dass alles, was sie sich so mühsam für dieses – möglicherweise letzte – Gespräch mit ihm zurechtgelegt hatte, plötzlich wie weggewischt war. In diesen drei einfachen Worten lagen mehr Schmerz und Verzweiflung, als sie jemals für möglich gehalten hätte, und viel, viel mehr, als sie verstand. Das Wissen um den Tod von fünf Milliarden Menschen war nicht fünf Milliarden Mal so schlimm wie das um den Tod eines Einzelnen, vielleicht nicht einmal wirklich schlimmer. In manchen Punkten war die Natur trotz allem barmherzig gewesen. Es gab eine Grenze dessen, was man erleiden und ertragen konnte. Aber bei Benedikt schien diese Grenze überschritten zu sein, als habe er eine Dimension der Furcht kennen gelernt, die nicht für Menschen gedacht war und die Menschen niemals erfahren sollten. Und sie verstand nicht wirklich, warum.
»Wir können nichts mehr daran ändern«, sagte sie in einem schwachen Versuch, ihn zu trösten. »Weder du noch ich – oder irgendwer hier.«
Wieder vergingen Sekunden, in denen er gar nicht reagierte, ehe er erneut und wieder auf diese unheimlich langsame, mühevolle Art den Blick vom Fernseher löste und sie ansah. Diesmal war noch etwas in seinen Augen, etwas, das vorher nicht da gewesen war, das ihr beinahe noch mehr Angst machte. Etwas in ihr begriff plötzlich, was in Benedikt vorging, aber sie weigerte sich, dieses Wissen ganz in ihr Bewusstsein vordringen zu lassen.
»Du hast es nicht verstanden, nicht wahr?«, fragte er.
»Was?«
»Was dort geschieht.« Er deutete auf den Fernseher. »Was es bedeutet.«
»Ich … bin nicht sicher«, antwortete Rachel zögernd. Ihr Herz begann zu klopfen. »Aber dein Vater …«
»Es geht nicht um meinen Vater«, unterbrach sie Benedikt. »Oder um den anderen Mann. Oder um dich. Es geht nur um mich.«
»Aber es war doch nicht deine Schuld!«, protestierte Rachel. »Du warst ein Säugling damals, genau wie ich! Was hättest du schon –«
»Du hast es nicht verstanden«, sagte Benedikt. »Es ist wahr. Alles ist wahr. Alles wird genau so passieren, wie es vorhergesagt wurde. Es geschieht bereits. Die Sintflut. Du. Ich. Es ist alles wahr.«
Aber hatte er denn wirklich daran gezweifelt? War er es nicht gewesen, der sie die ganze Zeit zu überzeugen versucht hatte, und sie diejenige, die sich bis zum letzten Moment an ihre Zweifel klammerte, selbst noch im Angesicht des Sterns, der die Vernichtung bringen würde?
Vielleicht nur aus reiner Hilflosigkeit heraus hob sie den Arm und streckte die Hand über den Tisch hinweg aus, um ihn zu berühren, aber Benedikt zuckte erschrocken zurück. »Rühr mich nicht an!«
Rachel ließ den Arm verwirrt wieder sinken. »Aber was …?«
»Rühr mich nicht an«, wiederholte er. »Niemand soll mich mehr anrühren. Nie mehr!«
»Aber was soll denn der Unsinn?«, murmelte Rachel hilflos.
Hektisch schüttelte er den Kopf und machte eine Bewegung, als wolle er aufspringen, ließ sich aber sofort wieder zurücksinken. Sein Gesicht war zu seiner Maske aus Qual geworden und in seinen Augen schien plötzlich ein verzehrendes Feuer zu brennen. »Hast du es denn
Weitere Kostenlose Bücher