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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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hatte sich in den darauf folgenden achtzehn Jahren nichts geändert. Aus der Kleinmädchenfreundschaft war eine Beziehung geworden, wie sie so intensiv und intim wohl nur unter Frauen denkbar war, und das war bis zum heutigen Tag so geblieben.
    Außer, was Jungen und später Männer anging.
    Manchmal, wenn sie sich scherzhaft neckten, beschimpfte Rachel Tanja als Flittchen und Schlampe, die mit jedem ins Bett stieg, der alt genug war, um sich einmal im Monat rasieren zu müssen, und Tanja ihrerseits nannte Rachel eine prüde Ziege, die noch immer glaubte, dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen einzig in der Schreibweise bestand. Beides ging natürlich um Lichtjahre an der Wahrheit vorbei – aber die Richtung stimmte. Tanja hatte ihre Sexualität nicht nur viel früher entdeckt als Rachel, sie lebte sie auch viel freier aus. Nicht, dass sie wirklich auf dem Weg gewesen wäre, zu einem jener gewissen Mädchen zu werden, von denen ihre Mutter manchmal sprach, wobei sich ein Ton in ihre Stimme schlich, der mehr sagte, als alle Worte es gekonnt hätten. Aber sie entwickelte sich doch in eine Richtung, die dazu angetan war, ihre Eltern mit stiller Besorgnis zu erfüllen. Gleichzeitig – davon war Rachel vollkommen überzeugt – waren genau diese Eltern auch der Grund, weshalb Tanja so war: Ebenso wie Rachels eigene Eltern waren sie strenggläubige Katholiken, bei denen das Wort des Herrn oberste Priorität hatte und die Bibel eindeutig mehr Gewicht als der Zeitgeist oder das Gesetzbuch. Aber während Rachels Eltern versucht hatten, ihr die Grundzüge christlichen Lebens mit Geduld und einem schier unendlichen Maß an Verständnis und Nachsicht beizubringen, waren die Eltern Tanjas unerbittlich gewesen; auf ihre Art ebenso sanftmütig und duldsam wie die Rachels, aber zugleich auch auf eine beinahe besessene Weise missionarisch, von einem heiligen Eifer erfüllt, der Tanja das Leben manchmal wohl unerträglich gemacht haben musste, auch wenn sie niemals darüber sprach oder sich gar beschwerte. Sie hatte eben auf ihre Weise rebelliert und zumindest darauf hatten ihre Eltern auf eine Art reagiert, die Rachel angenehm überraschte: Es hatte keine großen Auseinandersetzungen gegeben, kein Wehklagen und Jammern, keine Drohungen mit dem ewigen Höllenfeuer. Vielleicht hatten sie einfach darauf gehofft, dass ihre Tochter von selbst zur Vernunft kam, wenn sie sich erst einmal richtig ausgetobt hatte oder das Schicksal sie auf irgendeine Weise zur Raison brachte. Genau das war der Fall – wenn auch bestimmt nicht auf die Art, die sie sich gewünscht hätten; von ihrer Tochter ganz zu schweigen.
    Das Schicksal kam in Gestalt eines muskelbepackten Schwachkopfes über sie, dessen einzige Attribute ein PS-starkes Motorrad waren, mit dem er bei jeder Gelegenheit herumprotzte, sein bodybuilding-gestählter Körper und ein einigermaßen attraktives Gesicht. Mittlerweile war es von zu viel Alkoholgenuss aufgequollen. Seine Muskeln waren erschlafft und hatten sich zum größten Teil in Fett verwandelt, nachdem er aufgehört hatte, regelmäßig zu trainieren. Und seit er arbeitslos geworden war und fast den ganzen Tag mit einer Zigarette in der einen und einer Flasche Bier in der anderen Hand auf dem Sofa vor dem Fernseher saß, hatte er sich von einem geistigen Tiefflieger in einen intellektuellen Tiefseetaucher verwandelt.
    An jenem Tag aber, an dem Tanja und Rachel aus einem unzertrennlichen Paar zu guten, aber eben ganz normalen Freundinnen wurden, an dem Tanjas unbeschwertes Leben endgültig und unwiderruflich vorbei sein sollte, an dem Tanjas Eltern sich mit der schockierenden Erkenntnis abfinden mussten, dass Gott sich offensichtlich von ihnen abgewandt hatte und ihre Familie bestrafte, an dem Rachel das erste Mal Angst vor sich selbst und vor dem, was in ihr schlummerte, bekam und an dem Frank zu der Überzeugung gelangte, dass sie eine leibhaftige Hexe sei – an jenem wirklich schicksalhaften Tag also, an dem so unendlich viel geschehen sollte, war Frank noch ein halbwegs gut aussehender Bursche gewesen, Rachels Meinung nach auch damals schon mit dem IQ eines dressierten Schimpansen, aber immerhin mit einem Gesicht und einem Körper, denen man schon einmal einen zweiten Blick schenkte. Es war ein warmer Sonntagnachmittag im Hochsommer. Nicht so brüllend heiß wie viele der vorangegangenen Tage, aber doch warm genug, um die Menschen aus ihren Häusern zu locken und vor allem die Jugendlichen der näheren Umgebung an

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