Flut: Roman (German Edition)
keineswegs ununterbrochen. Es gab immer wieder Zeiten – manchmal wenige Minuten, manchmal aber auch eine oder zwei Stunden, wenn auch niemals länger –, in denen der Regen zu einem feinen Nieseln wurde oder der Himmel seine Schleusen sogar ganz schloss. Zum Ausgleich riss die Wolkendecke an zahlreichen Stellen auf, so dass sie das Flammenmeer aus Farben sehen konnten, das von Osten her über den Himmel kroch. Pastellfarbene Bänder aus Rot, Blau und Grün, durchzogen von dünnen Linien aus Weiß und breiteren, verschwommenen Bereichen von vollkommenem Schwarz, als wäre die Dunkelheit des Weltalls dort kondensiert, um sich im Schutz des Lichtes in den Tag hineinzuschleichen; ein planetenumspannender Regenbogen, der jeden Tag ein wenig an Leuchtkraft gewann und sich im gleichen Maße weiter auf die Erde herabzusenken schien, und ein Schauspiel von einer sonderbar brutalen, beeindruckenden Schönheit.
Eine Weile beobachteten sie beide schweigend dieses ebenso prachtvolle wie (wenigstens nach Aussage offizieller Stellen, die nicht müde wurden, ganze Legionen von Wissenschaftlern aufzufahren, um es immer und immer wiederholen zu lassen) harmlose Naturschauspiel. Schließlich knüpfte Naubach so nahtlos an seine Ausführungen an, dass sie seinen Worten im ersten Moment nicht einmal Sinn abzugewinnen vermochte. »Man entwickelt ein gewisses Gefühl für die Dinge, wissen Sie? Nehmen wir zum Beispiel Ihren Freund Scheller.« Er klappte die Sonnenblende herunter, um von dem himmlischen Feuerwerk nicht geblendet zu werden. »Wenn ich seinem Gerede auch nur die Spur von Glauben schenken würde, dann müssten Sie jetzt eigentlich Handschellen tragen.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie erschrocken. Er konnte doch unmöglich gehört haben, was drinnen im Haus gesprochen wurde.
Naubach lachte leise. Offenbar amüsierte er sich prächtig auf ihre Kosten, was ihm einen weiteren Minuspunkt einbrachte. »Wie gesagt, ich hatte bereits das Vergnügen. Wenn man diesem Verrückten also glaubt, dann sind allein Sie für alles Unglück auf der Welt verantwortlich, einschließlich dem da.« Er wies nach oben.
»Wie schon öfter gesagt: Er ist ein Idiot«, schmollte Rachel.
»Aber ein überzeugender«, fügte Naubach hinzu. »Wenigstens wenn er nüchtern ist. Was haben Sie ihm eigentlich getan, dass er Sie so hasst?«
»Nichts«, antwortete Rachel. »Frank braucht keinen Grund, um jemanden zu hassen. Wie ich schon mehrmals gesagt habe: Er ist einfach ein Dummkopf.«
Aber das war natürlich nicht die ganze Wahrheit. Es entsprach den Tatsachen, dass sie sich vom ersten Moment an unsympathisch gewesen waren – und zwar durchaus gegenseitig –, und Rachel hatte nicht allzu lange gebraucht, um zu dem Schluss zu kommen, dass Frank Scheller ein ziemlicher Dummkopf war, dennoch hatte Frank – zumindest von seinem eigenen, verschrobenen Standpunkt aus – einen durchaus handfesten Grund, sie zu hassen. Tanja war vierundzwanzig gewesen, als sie ihn kennen gelernt hatte; eine Zufallsbekanntschaft nach einem ausgedehnten Disco-Abend in der Stadt, der für sie alle leicht beschwipst und in ausgelassener Stimmung geendet hatte, ausgelassener, als vielleicht gut war. Rachel hatte Tanjas neueste Eroberung zwar stirnrunzelnd, aber ohne große Sorge zur Kenntnis genommen. Tanja sah nicht nur fantastisch aus, sie war auch lebenslustig – und vor allem kontaktfreudig – genug, um an jedem Finger zehn haben zu können, wie man so schön sagte. Oft genug hatte sie das auch.
Rachel konnte sich durchaus an Gelegenheiten erinnern, an denen sie zwei, wenn nicht gar drei Freunde parallel gehabt hatte; wobei Rachel sicher war, dass es sich nicht immer nur um platonische Freundschaften handelte. Vielleicht war das der einzige Punkt, an dem sie nicht fast hundertprozentig einer Meinung waren. Manchmal waren sie sich so ähnlich, dass es schon fast unheimlich war. Nicht äußerlich – Tanja war viel hübscher als sie und sie hatte eine Figur, auf die Rachel ganz offen neidisch war –, aber in fast allem anderen: sie hörten die gleiche Art von Musik, fuhren auf dieselben Popstars und Hollywood-Ikonen ab, trugen die gleichen Kleider und hatten einen nahezu identischen Geschmack, was die Einrichtung ihrer Wohnung beziehungsweise, in Tanjas Fall, des ausgebauten Dachapartments im Haus ihrer Eltern anging. Das war vom ersten Moment an so gewesen. Sie hatten sich am ersten Schultag kennen gelernt und auf Anhieb ineinander verguckt, und an diesem Zustand
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