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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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die Ufer des kleinen Baggersees, der vor vier Jahren stillgelegt worden war und sich seither zu einer Art unerklärtem Freizeitpark entwickelt hatte. An dem einzigen schmalen Waldweg, über den man ihn erreichen konnte, stand noch immer ein von Rost zerfressenes Schild, auf dem so unschöne Worte wie »Privatgelände«, »Betreten verboten« und »Baden verboten – Lebensgefahr« zu lesen waren, aber diese Schilder wurden von jedermann genauso ignoriert wie die eiserne Kette, die quer über den Weg gespannt gewesen war. Jemand – Rachel wusste sogar, wer – hatte einen Bolzenschneider genommen und sie durchgeknipst, kaum dass die letzten Arbeiter gegangen waren und die Kiesgrube ihren Dienst offiziell eingestellt hatte. Niemand hatte etwas dagegen. Ganz am Anfang hatte es einen halbherzigen Versuch der Behörden gegeben, die überwiegend jugendlichen Badegäste zu vertreiben, aber er war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.
    Mittlerweile tauchte dann und wann noch ein Streifenwagen der Polizei am Ufer auf, um Behördenpräsenz zu zeigen und dafür zu sorgen, dass die Dinge nicht ganz aus dem Ruder liefen, aber darüber hinaus hatte sich die Obrigkeit damit zufrieden gegeben, beide Augen zuzudrücken und eine neue, größere Tafel direkt am Ufer aufzustellen, auf der »Baden auf eigene Gefahr« zu lesen war – genauer gesagt, zu lesen gewesen war, bevor irgendein Graffiti-Künstler sie als Leinwand entdeckt hatte.
    Rachel fühlte sich fehl am Platze. Tanja und sie hatten sich locker für diesen Nachmittag verabredet, ohne eine genaue Uhrzeit oder einen bestimmten Treffpunkt auszumachen, und sie hatte sogar gezögert, ob sie überhaupt kommen sollte. Es ging nicht nur um Frank, auch wenn ihr die Aussicht, den Nachmittag in seiner Gesellschaft zu verbringen, die Entscheidung gewiss nicht erleichtert hatte. Aber in letzter Zeit ertappte sie sich immer häufiger dabei, das Gefühl der Zugehörigkeit zu all diesen lachenden, fröhlichen und ausgelassen herumtollenden jungen Leuten zu verlieren. Das war vollkommen lächerlich – mit gerade einmal fünfundzwanzig war sie alles andere als alt; sie hatte noch nicht einmal damit begonnen alt zu werden. Und dennoch: Der Abstand zwischen ihr und dem Durchschnitt der lautstark rings um sie herum tollenden und planschenden Menge war bereits spürbar und er wuchs mit jedem Tag und unbarmherzig. Sie war beileibe nicht die Älteste hier. Es hab eine Anzahl junger Mütter (einige davon zweifellos jünger als sie selbst), die schon mit eigenen Kindern gekommen waren, Säuglingen oder tollpatschigen kleinen Geschöpfen, die breitbeinig in ihren Pampers am Strand herumwatschelten, und einige (wenige) wirklich ältere Besucher, aber die Jugend war in der Überzahl, eindeutig. Was war das?, fragte sie sich sarkastisch. Midlife-Crisis mit fünfundzwanzig? Wohl kaum, entschied sie. Eher der natürliche Lauf der Dinge. Wahrscheinlich war es allmählich an der Zeit, dass sie sich – so wie Tanja es ausgedrückt hätte – nach anderen Jagdgründen umsah.
    Sie ließ ihren Blick ohne besonderes Ziel über das Ufer des kleinen Sees schweifen und sah Frank auf der anderen Seite, der seine persönlichen Jagdgründe schon gefunden hatte. Die Leute vom Kieswerk, die den Baggersee angelegt und gute fünfzehn Jahre lang immer breiter und tiefer ausgebaggert hatten, hatten die meisten Maschinen abgebaut und weggeschafft, nachdem das Werk seinen Betrieb eingestellt hatte, aber nicht alle. Auf der gegenüberliegenden Seite, gute dreißig Meter entfernt, erhob sich eine ehemals gelbe, jetzt von Rost und Altersflecken zerfressene Metallgitterkonstruktion, von der Rachel nicht ganz begriffen hatte, wozu sie einmal gedient haben mochte: ein Bagger? Es schien irgendeine Art von Transportgerät zu sein oder eine Maschine, von der sie möglicherweise noch niemals gehört hatte. Gleichgültig, was es einmal gewesen war, jetzt eignete es sich hervorragend als Sprungturm, denn sein Ende ragte gute zehn Meter weit und etwa fünf Meter hoch über den See hinaus.
    Frank war gerade dabei, mit ausgebreiteten Armen und deutlich langsamer als nötig (damit man das Spiel seiner Muskeln unter der eingeölten Haut besser bewundern konnte, nahm sie an) über den Ausleger nach oben zu balancieren. Sie sah auf Anhieb mindestens ein Dutzend Mädchen – vorzugsweise zwischen fünfzehn und siebzehn –, die mit unverhohlener Bewunderung zu ihm hochgafften, und nicht wenige Jungen, die dasselbe voller Neid taten.

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