Flut: Roman (German Edition)
dass ich freiwillig mit Ihnen gehe. Ich werde weder Widerstand leisten noch einen Fluchtversuch unternehmen oder Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten bereiten. Aber Sie werden niemandem etwas tun.« Sie drehte sich zu De Ville um. »Bitte!«
Erneut schien die Zeit für eine kleine Ewigkeit einfach stillzustehen, aber schließlich – endlich! – nickte De Ville.
»Also gut. Aber dazu muss ich telefonieren. Darf ich mein Handy aus der Tasche ziehen oder erschießen Sie mich dann gleich?«
Der angebliche Polizist antwortete nicht laut, aber seine Waffe richtete sich drohend auf De Villes Stirn. Er machte einen Schritt zur Seite und wedelte widerwillig mit der freien Hand. »Setzen Sie sich neben sie. Vorsichtig.«
De Ville stand mühsam auf und ließ sich ächzend auf den freien Platz neben Rachel fallen und der vermeintliche Polizist nahm auf der gegenüberliegenden Bank Platz; eine Position, von der aus er sowohl Rachel und De Ville als auch den Piloten im Auge behalten konnte.
De Villes Hand glitt – sehr vorsichtig – in die Manteltasche und kam mit einem weniger als zigarettenschachtelgroßen Handys wieder zum Vorschein. Als er es aufklappen wollte, schüttelte ihr Gegenüber jedoch den Kopf.
»Gerade haben Sie ein anderes Gerät benutzt«, sagte er.
»Und?« De Ville versuchte möglichst unbefangen auszusehen, aber ganz gelang es ihm nicht. »Spielt das eine Rolle?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete der angebliche Polizist, »aber wenn es keinen Unterschied macht, dann können Sie genauso gut das andere benutzen, oder?«
»Was für ein Unsinn«, knurrte De Ville. Dennoch steckte er das Gerät wieder ein und zog Naubachs Handy aus der anderen Manteltasche. Er schaltete es ein, überzeugte sich mit einem fragenden Blick davon, dass er nicht sofort niedergeschossen wurde, wenn er irgendeine Taste drückte, und wählte nur mit dem Daumen eine Nummer.
»Überlegen Sie genau, was Sie sagen«, warnte ihr Gegenüber. »Ich möchte ungern jemanden erschießen, aber ich werde es tun, wenn ich muss, glauben Sie mir.«
Es war seltsam – aber Rachel spürte einfach, dass er die Wahrheit sagte; sowohl was seine Entschlossenheit anging als auch seinen Widerwillen, Blut zu vergießen.
Während De Ville mit mürrischem Gesichtsausdruck die Nummer zu Ende eingab und das Gerät ans Ohr hob, unterzog sie den jungen Mann auf der gegenüberliegenden Sitzbank zum ersten Mal einer gründlichen Musterung. Das Ergebnis überraschte sie. Nach dem, was er bisher getan hatte, hatte sie ganz selbstverständlich unterstellt, dass er zu den gleichen Männern gehörte, die sie verfolgten und vor denen Benedikt sie gewarnt hatte, aber das konnte nicht sein. Er war kaum älter als zwanzig, und wenn sie jemals einen jungen Mann gesehen hatte, der kein slawischer Typ war, dann ihn. Er hatte kurz geschnittenes, hellblondes Haar und ein schmales, offenes Gesicht. Und so strahlend blaue Augen, dass sie schon fast wieder unnatürlich wirkten. Er sprach ohne Akzent, aber allein der Klang seiner Stimme machte klar, dass er am Ufer des Rheins aufgewachsen war, nicht an der Moskwa. Aber das war nur das, was sie sah. Wichtiger erschien ihr, was sie spürte. Es war unmöglich, im Gesicht des jungen Mannes zu lesen. Er hatte sich perfekt in der Gewalt. Seine Miene war wie Stein und sein Blick verriet ebenso wenig über seine wahren Gefühle und war einfach nur aufmerksam und sehr misstrauisch, und dennoch spürte sie, dass es hinter dieser Maske vollkommen anders aussah: Er litt Höllenqualen. Es erschien ihr selbst völlig absurd und doch spürte sie in jeder Sekunde deutlicher, dass er kein schlechter Mensch war und schon gar nicht gewissenlos. Er litt unter dem, was er tat, und mehr noch unter dem, was er noch tun würde.
De Ville hatte sein Telefongespräch beendet und ließ die Hand sinken, als hätte er mit einem Mal nicht mehr die Kraft, das Gerät zu halten. »Sie haben ihn«, sagte er. »Unversehrt. Er hat keinen Widerstand geleistet.«
»Dann fliegen wir jetzt hin und holen ihn ab.«
»Seien Sie doch vernünftig«, antwortete De Ville. »Das wird nicht funktionieren und das wissen Sie ganz genau. Die Männer dort hinten sind Polizeibeamte. Echte Polizeibeamte, die ihre Arbeit ernst nehmen. Sie werden ihren Gefangenen nicht mir nichts, dir nichts ausliefern, nur weil ich sie höflich darum bitte.«
Der junge Mann lächelte knapp. »Sie versuchen Zeit zu gewinnen. Das nehme ich Ihnen nicht übel. Ich habe nichts anderes erwartet.
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