Flut: Roman (German Edition)
Aber wissen Sie, auch ich bin ein echter Polizist und ich kenne Ihre Befugnisse.« Er wedelte mit seiner Waffe. »Fliegen wir los.«
De Ville funkelte ihn noch eine Sekunde lang trotzig an, aber dann nickte er widerwillig und drehte sich im Sitz nach vorne, um sich an den Piloten zu wenden: »Fliegen Sie los!«
***
Rachel war sieben Jahre alt gewesen, als sie sich ihres besonderen Talentes das erste Mal wirklich bewusst wurde. Es war nicht das erste Mal, dass sie es spürte, und schon gar nicht das erste Mal, dass es sie vor einem Unglücksfall oder zumindest vor Schwierigkeiten bewahrte, aber das erste Mal, dass sie wirklich begriff, dass an ihr etwas anders war als an den meisten Menschen, die sie kannte.
Es war ein Tag im Spätherbst. Der Oktober verdiente die Bezeichnung »golden« in diesem Jahr ganz besonders und das Wetter hätte in so manchem anderen Jahr dem Hochsommer Konkurrenz machen können, und Rachel, die sich wie all ihre Klassenkameradinnen und -kameraden im vielleicht aufregendsten aller Lebensabschnitte befand, in dem jeder Tag eine neue Erfahrung und manchmal jede Stunde eine neue und aufregende Entdeckung brachten, machte an diesem Tag eine ganz besonders neue und ganz besonders aufregende Erfahrung, auch wenn sie sich der Tragweite und Bedeutung natürlich nicht bewusst war.
Die Klasse hatte einen Ausflug in den Zoo gemacht, der eine Stunde mit dem Bus entfernt lag und das mit Abstand Spannendste war, woran sich Rachel bis zu diesem Augenblick erinnern konnte; eine komplett fremde Welt voller fantastischer Geschöpfe und exotischer Pflanzen und Tiere, die ihr mindestens so aufregend vorkamen wie die bizarren Kreaturen aus den Sciencefictionfilmen, die ihr Vater manchmal im Fernsehen sah. Nur, dass die Tiere im Zoo real und greifbar waren; dass sie sie sehen, hören, riechen und zum Teil sogar anfassen konnte – ganz anders als die albernen Filmgeschöpfe, die nur aus Pappmaché und Gummi bestanden.
Ganz besonders die Wölfe hatten es ihr angetan. Die meisten anderen Kinder begeisterten sich für die großen Raubtiere, die Löwen, die Tiger und vor allem den einzelnen schwarzen Panther, der ganz allein für sich in einem Käfig lag und die lärmende Kinderschar aus seinen unheimlichen gelben Augen mit jener Verachtung anstarrte, zu der von allen Geschöpfen nur Katzen imstande sind, oder auch für die kuscheligen Pandabären oder die schnatternde Affenbande, die auf ihren künstlichen Felsen herumtobte, den Besuchern Grimassen schnitt oder sie mit Obstschalen und anderen Essensresten bewarf und ihnen manchmal – was immer ein großes Gekicher und Gegröle bei der gesamten Klasse auslöste – die feuerroten nackten Hinterteile entgegenstreckte. Rachel fand dieses Benehmen ziemlich kindisch; vielleicht Dreijährigen angemessen, oder allenfalls einem Kindergartenkind, aber doch keinem fast erwachsenen Mädchen, das schon zur Schule ging und zweifellos noch in diesem Jahr seinen ersten Freund haben würde. Außerdem fand sie die Wölfe in ihrem Gehege viel interessanter.
Die Tiere wurden nicht in einem Käfig gehalten wie die meisten anderen Bewohner des Zoos, sondern in einer gut zwanzig auf dreißig Meter messenden und drei Meter tiefen Grube, in der mittels künstlicher Felsen und geschickt drapierter Baumattrappen und Büsche ein winziger Ausschnitt ihrer natürlichen Heimat nachgebildet worden war. Umgeben war diese Grube von einer meterhohen Natursteinmauer, sodass die Tiere gar keine Chance hatten, aus ihrem Gefängnis zu entkommen, die Besucher sie aber völlig ungehindert, nicht durch Gitterstäbe getrennt, beobachten konnten. Im ersten Moment hatte Rachel diese Art der Tierhaltung einfach nur toll gefunden – sie liebte Tiere und sie mochte es nicht, wenn sie in Gefangenschaft oder gar in Käfigen gehalten wurden. Schon der Anblick eines Kanarienvogels im Käfig bereitete ihr Unbehagen. Und sie war für eine Weile nicht einmal ganz sicher gewesen, ob sie sich auf den Ausflug in den Zoo überhaupt freuen sollte. So war es kein Wunder, dass das Wolfsgehege sie fast magisch angezogen hatte, bot es doch zumindest die Illusion von Freiheit.
Aber je länger sie hier stand und auf das Freigehege hinabsah, desto mehr Zweifel kamen ihr. Sicher, die Tiere waren frei und konnten sich ungehindert auf einem weit größeren Gelände bewegen als die meisten anderen Tiere im Zoo, aber es war doch eine nur scheinbare Freiheit und vielleicht war der Preis, den sie dafür bezahlten, einfach zu
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