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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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Strecke kennen den Anblick schon. Der Mann ist von hagerer Statur und hat kindlich gerötete Backen, über die sich eine ungewöhnlich glatte Haut spannt. Einen Hals hat er nicht. Er geht langsam, leicht gebeugt und trägt einen dunklen Anzug. Die Frau ist kleiner und etwas rundlich, auch sie hat festliche Kleidung angelegt. Ihr Gesicht, aus dem eine habichtartige Nase herausragt, wirkt selbst aus der Ferne freundlich und ungemein wach. Mit dem Tragen des Koffers, der eine gewisse Last zu bergen scheint, wechseln sie sich ab. Offenbar ein Ehepaar, das ohne viele Worte ganz gut miteinander auskommt. Wohin führt sein Weg? Und was mag es da mit sich herumschleppen?
    Und dann sehe ich eine Totenbahre. Sie steht im Keller eines Altenheims im Stadtteil Weißer Hirsch, dem hoch über der Elbe gelegenen Villenviertel Dresdens. Auf ihr liegt Martin in seinem dunklen Sonntagsanzug. Durch das kajütenartige Fenster fällt schwaches Tageslicht herein, zusammen mit den Kerzen, die in einigen hohen Ständern brennen, reicht es gerade zum Lesen. Zwei Tage lang wechseln sich seine Glaubensbrüder mit der Totenwache ab. Immer sitzt einer von ihnen neben der Bahre und trägt aus der Bibel vor. Sie begleiten Martins Übertritt in die nächste Ungeborenheit. Und zugleich wollen sie ihn für sein letztes Leben loben.
    Alles liegt nun
    florumwoben.
    Schlaf umschmiegt nun
    Unten, oben.
    Nur die fernen
    Fälle toben.
    Leise Geisterhände
    tragen
    mich vom
    Wagen
    in des Schlummers
    Traumgelände.
    Aller Notdurft,
    alles Kummers
    ganz befreit,
    fühle ich ein höheres Sein
    mich durchweben.
    Als würde er schweben. So kommt es B. vor, als sie ihren Großvater so wohlbehütet daliegen sieht. Aus ihrer Trauer taucht ein kleines Glücksgefühl auf. Denn obwohl sie nicht weiß, wie das gehen soll, sie kann sich gut vorstellen, dass er die Worte hört. Auch Hannelise wacht ausdauernd an der Seite ihres Mannes. Einige Tage später erscheint er ihr im Traum. Er trägt eine Toga und sitzt auf der Treppe eines kleinen Tempels. Ohne sie zu bemerken, ist er in ein Gespräch mit Sokrates, Platon, Pythagoras und Plotin vertieft. Es ist ein zutiefst gemischtes Gefühl, das sie beim Anblick dieser Männer überkommt. Martin ist ihr in dieser Szene so vertraut, wie ein Mensch dem anderen nur sein kann. Und es ist ja auch ihre Welt, die sie da sieht. Sie hat Gräzistik studiert, gemeinsam haben sie die Evangelisten und die Kirchenväter im Original gelesen. Sie liebt die griechischen Philosophen genau wie er. Doch die Unverstelltheit, mit der er sich ihnen jetzt,wo er allein ist, hingibt – die schockiert sie fast. Ihr wird schmerzhaft bewusst, dass ein Teil von ihm auch für sie immer unzugänglich geblieben ist. Um existieren zu können, musste er sich verschließen können. Das wusste sie, so wie sie wusste, dass es nie in böser Absicht geschah; und doch konnte sie nicht anders, als dieses Verhalten auch als abweisend zu empfinden. Aber hier, das spürt sie, kann er sich plötzlich ganz zeigen. Er wirkt so unbefangen, so gelöst. Als sie ihrem Sohn von dem Traum erzählt, hat sie diesem gemischten Gefühl bereits eine Deutung gegeben, die man in ihrer Unzweideutigkeit nur liebevoll nennen kann.
    »Endlich ist er daheim«, sagt sie.

12. KAPITEL
DER HEIDE VON AHAUSEN
    Der Todeszeitpunkt lag schon so lange zurück, dass man zu seiner Bestimmung einen forensischen Entomologen zu Rate ziehen musste. Trotz des Sommerwetters waren alle Fenster verschlossen gewesen. Instinktiv hatten die Polizeibeamten nach der gewaltsamen Öffnung der Wohnungstür die Nähe des ungespülten Geschirrs gesucht, dessen säuerlich-stechender Geruch einen Kontrast zur unerträglichen Süße der Fäulnis bildete. Der rigor mortis, so stellte der herbeigerufene Arzt fest, hatte sich schon gelöst; und auch das Thermometer maß – trotz voller Bekleidung und Übergewicht – acht Zentimeter rektal keine andere Temperatur mehr als in der Umgebung der Leiche. Informativer war da schon die Metamorphose von musca domestica, deren in Augen- und Nasenschleimhäuten abgelegte Eier sich bereits in einem späten Larvenstadium befanden. Dennoch konnte der Verfasser des Obduktionsberichts nicht mehr tun, als einen Zeitraum von mehreren Tagen zu definieren, innerhalb dessen der Tod eingetreten sein musste. Dass M41 am 23. Juni 2011 starb, ist also bestenfalls eine auf Wahrscheinlichkeit gegründete Annahme. Auch die Todesursache konnte nicht mehr eindeutig geklärt werden. Er war nicht im

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