Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
engeren Sinn krank gewesen. Aber ihn gesund zu nennen hätte noch weniger gepasst. Jedenfalls konnte es niemanden, der ihn in den letzten Jahren gesehen hatte, überraschen, dass er einfach tot umgefallen war.
Jeder bekommt den Tod, den er verdient, heißt es. Wie alle Lebensweisheiten hätte M41 wohl auch diese erst einmal geglaubt. Nicht dass er leichtgläubig gewesen wäre. Eher gutgläubig. Und von Natur aus neugierig. Hatte es nicht auch geheißen, wem eine Schwalbe auf den Kopf scheiße, dem werde Gutes widerfahren? Und wäre er nicht dumm gewesen, sein Glück zu bezweifeln, statt es auf die Probe zu stellen, als das – es muss im Sommer 1949 oder 1950 gewesen sein – wirklich geschehen war? Und hatte er nicht tatsächlich noch am Nachmittag des gleichen Tages drei herrliche Weißfische aus dem Ahauser Mühlteich geangelt? Nun, er war bestimmt nicht aus Neugier gestorben. Aber wäre er dazu noch in der Lage gewesen, M41 hätte wohl gefunden, dass ihm da ein passender Tod beschert worden war. Übrigens war er damals ohne M44 zum Angeln losgezogen. Nicht, weil der kleine Bruder keine Ahnung von solchen Sachen gehabt hätte. Im Gegenteil, trotz der drei Jahre Altersunterschied war mit dem Knirps eine Menge anzufangen; mehr als mit dem ängstlichen M42 jedenfalls. Nein, es war nun mal einzig und allein ihm auf den Kopf geschissen worden, genau zwischen die beiden Haarwirbel, die in der ganzen Familie nur er besaß. Außerdem war es immer etwas heikel, über derlei Naturgesetze allzu offen zu reden. Also hatte er das Vorzeichen für sich behalten und war allein zur Mühle gezogen. Und der Erfolg hatte ihm schließlich recht gegeben.
M44 starb zwei Jahre vor seinem Bruder. Nach einer langen, heimtückischen Krankheit. Wenn in diesem Fall Zweifel angebracht sind, ob wirklich jeder Tod als Abbild des Lebens anzusehen ist, so beweist er umso deutlicher, dass jeder Mensch das Begräbnis bekommt, das er verdient. Und fürdieses Begräbnis hatte M44 wahrlich viel getan. Er hatte seinen Mann gestanden, als seine drei kleinen Kinder plötzlich mutterlos geworden waren. Er hatte sich mustergültig von seinem Vater distanziert, ihn als einziger unter den Geschwistern einen »Nazi« genannt und das sogar definieren können: Friedrich Leo, so sagte er, sei ein menschenverachtender Despot gewesen, ein Individuum mit vollständig deformierter Psyche, dem die nationalsozialistische Ideologie eine Legitimation geliefert habe, um die eigene Deformation zur Norm zu erklären. Und er hatte es sich nicht nehmen lassen, dieser individualisierten Deformation persönlich vors Schienbein zu treten, nicht im übertragenen Sinn, durch Widerspruch, das wäre zwecklos gewesen, sondern ganz wörtlich, mit der Schuhspitze gegen den schmerzempfindlichsten Knochen des Vaters, worauf der zischend durch die Zähne eingeatmet und das Gesicht verzerrt, aber ansonsten keinen Laut von sich gegeben habe. Wie Bild und Spiegelbild müssen sie einander gegenübergestanden haben – der schlanke, breitschultrige Vater und der schönste seiner Söhne, siebzehn Jahre alt und auf dem Sprung in die deutsche Sozialdemokratie. Schon früh hatte er Platon und Heinrich Böll gelesen und sich im Amerikahaus politisch gebildet. Später war er dann ein von den Schülern verehrter Lehrer geworden. Und als er in die Bürgerschaft des Stadtstaates eingezogen war, hatten nicht wenige in ihm den kommenden Mann der Bremer SPD gesehen.
M44 scheint eine gewisse Ähnlichkeit mit mir gehabt zu haben. Tatsächlich habe ich mich früher in einigen seiner Züge wiedererkannt, der Neigung zur abstrakten Kritik zum Beispiel. Oft versuchte mein Vater mir im Eifer eines Streitgesprächs das Wort abzuschneiden, indem er mich unwillkürlichmit dem Namen seines jüngeren Bruders anrief: »Vierli, ich bitte dich!« Doch dann war M44 krank geworden, ausgerechnet er: der sportlichste von allen, der von einem Tag zum nächsten das Rauchen aufgegeben und jeden Morgen im Schwimmbad seine Bahnen gezogen hatte. Und auch dieser letzten Herausforderung war er mit bewundernswerter Willensstärke gerecht geworden, hatte nie geklagt und während des langen Klinikaufenthalts ebenso den Weg in die Malerei gefunden wie ins Christentum. In der Auszeit, die ihm die Krankheit vergönnte, war er nach Santiago de Compostela gepilgert, eine spirituelle Erfahrung, an der er Freunde und Verwandte durch ein von Hand geschriebenes Reisejournal teilhaben ließ. Kurz bevor die Krankheit endgültig zuschlug,
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