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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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loswerden wird. Aber er hat inzwischen einen Weg gefunden, damit umzugehen. Seine ganze Jugend über hat er sich bemüht, keine Fehler zu machen. Wie von Dämonen verfolgt und ohne die geringste Aussicht auf Erfolg. Als Erwachsener dreht er den Spieß um. Er tut einfach nur nochDinge, die aus Sicht des Vaters falsch sind. Das hat zwei Vorteile. Erstens erleichtert es die Orientierung. Was dem Vater missfällt, lässt sich nämlich viel leichter sagen als das Gegenteil. Außerdem machen die meisten Dinge, die dem Vater missfallen, Spaß. In der Summe kommt dabei ein Lebensprogramm heraus, das sich – anders als das väterliche – durchaus auf Regeln bringen lässt. Du darfst Fehler machen. Probier’ Dinge aus, du lernst immer was dabei. Halt die Klappe, wenn du keine Ahnung hast. Geh auf Menschen zu, vermute bis zum Beweis des Gegenteils nur Gutes von ihnen. Bereise ferne Länder, solange du bei Kräften bist, Deutschland kannst du dir auch als Greis noch ansehen. In einer Welt, in der Arschlöcher Disziplin, Enthaltsamkeit und frugale Ernährung predigen, kann Willensschwäche keine Sünde sein. Und wenn was schiefgeht? Scheiß drauf und fang wieder von vorne an.
    Das Leben, das auf Grundlage dieser Maximen entsteht, hat allerdings zwei Seiten. Einerseits wird es nie langweilig. M41 ist ständig unterwegs. Schon in der Jugend treibt es ihn ins Ausland. In Dr. Schmidt aus Kiel, wie der Vater Gründungsmitglied der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, findet er einen Mentor. Gemeinsam reisen sie nach Norwegen, um seltene Vögel zu beobachten. Später bringt ihn seine Firma herum. Die chemische Ölwehr ist ein junges Gewerbe, gefragt in allen Ecken der Welt: Es trägt ihn nach Südeuropa, in die USA, nach Mexiko und schließlich in die Sowjetunion. Die andere Seite ist andauernde Rastlosigkeit. Irgendetwas juckt M41 unstillbar von innen. Und er kennt kein Maß. Die einmal eingeschlagene Richtung muss um jeden Preis gehalten werden, ein Zurück gibt es nicht. Auch wenn Kopf, Herz und Gewissen längst Alarm geschlagen haben: DerDrang ist immer stärker. Weiter, immer weiter. Bis es kracht. Zwei Familien lässt er am Rand eines Weges zurück, der Schritt um Schritt an den Abgrund führt. – Aber vielleicht ist die Metapher auch unangemessen. Sein Körper ist ihm egal. Na und? Ist das Gegenteil denn wirklich besser?
    Einsi, Zweili und Vierli.
    Ihre Namen wuchsen den Brüdern in der Heide zu. Sie hatten denselben Vater. Aber sie erzählen unterschiedliche Geschichten über ihn. Wenn man hört, was Vierli und Zweili über Friedrich erzählen, fragt man sich, ob wirklich von derselben Person die Rede ist. Vierli, der Lehrer und Politiker mit Neigung zur Philosophie, erzählt eigentlich gar nicht. Er entwirft, unter Zuhilfenahme allerlei soziologischen und psychologischen Vokabulars, den Typus eines Unmenschen. Zweili, der Ingenieur, erinnert sich dagegen präzise an kleinste Einzelheiten, auch des eigenen Gefühls, und vermittelt dabei eine ganz andere Botschaft. Der Vater, so lautet sie, war streng, zuweilen hart – aber er hat uns auch beschützt. Für sich genommen klingen beide Texte schlüssig. Doch sie passen nicht zusammen. Legt man sie nebeneinander, kommt einem der eine zu unbarmherzig vor, der andere zu zahm. Einsis Text schlägt eine Brücke zwischen beiden. Seine Geschichte ist unbestimmter, absichtsloser. Die rohe Erinnerung spricht aus ihr, eine Bildermasse, die sich noch keiner Idee und keiner Botschaft gebeugt hat. Dem Inhalt nach ähnelt seine Geschichte eher der des jüngsten Bruders. Aber die im Wortsinn handgreifliche Nähe, die aus Einsis Erinnerung spricht, erinnert an Zweilis Erzählweise. Und trotz aller Monstrositäten: Einsis Vater ist kein Monster. Er bleibt ein Mensch, unverständlich, oft schwer erträglich, aber auchrätselhaft. Immer wieder fragt er sich, warum der Alte so geworden ist, was ihn zu dem gemacht hat, der er war. Auch wenn er keine Antwort findet, allein die fragende Haltung stellt das eigene Urteil unter einen letzten Vorbehalt.
    Genauso verhält es sich mit Einsis Blick auf die Kindheit im Ganzen. Gerade weil seine Sätze ohne Umweg aus den Tiefen der Erinnerung kommen, weil sie unbehauen und offen sind, wird die Heide bei ihm viel lebendiger als bei seinen Brüdern. Vierli beschreibt sie wie eine subjektive Landkarte, der Soziologe würde sagen: eine mental map. Auf dieser Karte gibt es klar voneinander geschiedene Abschnitte, nahe Wege, ferne Straßen, Orte, Kreise und

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