Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Vater berufen könnte, gibt es auch nicht. Es gibt nur den Anspruch auf Vollkommenheit. Und vor diesem Anspruch gibt es nun mal keine Fehler, sondern nur Versagen. Meistens weiß M41, wenn er Mist gebaut hat. Er weiß nur nie, welche Strafe folgen wird. Ob es ein paar Streiche mit dem gespaltenen Rohrstock gibt. Oder eine Backpfeife. Oder eine lange, unverständliche Moralpredigt. Oder eine Strafarbeit. Aber manchmal ist sein Gewissen auch vollkommen rein.
»Und genau dann krachte es oft am dollsten, dooh.«
Als er für die Tante aus dem Dorf einen Handwagen Kienäppel gesammelt hat und die ihm dafür 50 Pfennig zusteckt, dreht der Vater durch. Warum, bleibt unklar, genau wie die Art der Strafe. Er muss stundenlang Holz hacken. Nackt.
»Nackt, dooh! Warum nackt? Ich hab das nie kapiert.«
Aber die Unberechenbarkeit kann auch zum Gegenteil ausschlagen. Eines Tages treibt M41 sich bis zum Einbruch der Dunkelheit im Wald herum, er hat was angestellt, sogar die Mutter ist sauer, und jetzt versteckt er sich lieber. Als er spätabends auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer schleicht, bemerkt es der Vater. Doch statt ihn zu töten, raunzt er ihn lediglich an: »Wo hast du dich denn rumgetrieben?« Und wartetdie Antwort gar nicht erst ab: »Ab ins Bett, morgen geht’s früh raus, wir beide verreisen.« Wohin, sagt er nicht. Noch vor Sonnenaufgang packt er den kleinen Kameraden auf den Rücksitz seiner Miele, und dann ab die Post. Wrummm, knatter, knatter. Durch die ganze norddeutsche Tiefebene. Knatter, knatter. Über den Teutoburger Wald. Da, das Hermannsdenkmal! Was? Knatter, knatter. Nach Münster. Knatter, peng. Zu Beka Schultz. Ding dong. Für dich übrigens: Professor Schultz.
Was reden die da bloß die ganze Zeit, fragt sich M41, als die beiden edlen Blutsbrüder ihre Köpfe zusammenstecken und sein Kamerad, der um ein paar Jahre ältere, aber auch noch minderjährige Schultz junior sich unter den strengen Augen der Mutter herablässt, irgendeinen öden Edelscheiß mit ihm zu spielen.
Bis ins Erwachsenenalter geht das so. Erniedrigung und Kameraderie: der älteste Sohn des Sturmbannführers Friedrich Leo zu sein bedeutet für M41 beides. Der Vater gibt ihm bei jeder Gelegenheit zu verstehen, dass er ihm nichts zutraut. Und als sich herausstellt, dass sein ein Jahr jüngerer Bruder, von dem kein Mensch etwas erwartet, sich überraschend gut in der Gesellschaft zurechtfindet, als die Lehrerin und der Pastor immer häufiger bei den Eltern vorsprechen und für ihren Schützling werben, erst recht, als er die Aufnahmeprüfung für das Domgymnasium in Verden geschafft hat, als Einziger seiner Klasse, kriegt M41 immer öfter vom Vater zu hören: »Zweili, der schafft das mit links. Aber du: du schaffst das nie.« Dass M42 kein Kerl ist wie seine beiden Brüder, dass er Gefahren scheut und immer den Weg des geringsten Widerstands wählt, das sieht der Vater natürlich auch. Aber es geht ja nur darum, dem Ältesten eins reinzuwürgen. Malist es Einsi, wie er in der Familie gerufen wird, wurscht, was der brave Zweili jetzt schon wieder kann. Mal tut er ihm in seiner ängstlichen Angepasstheit fast leid. Aber manchmal wurmt es ihn auch. Mit zunehmendem Alter immer häufiger.
»Leutnant? Du willst Leutnant werden?«, fragt ihn der Vater. »Das überlass mal lieber Zweili, der ist vernünftig, auf den hören die Leute. Aber du schaffst das sowieso nicht.«
Er schafft es natürlich doch. Und plötzlich ist er wieder der Älteste. Das Geburtsmitglied. Der Kamerad und Geheimnisträger. Er wird im Alpenraum stationiert. Am Ende des Weihnachtsurlaubs steckt ihm der Vater einen versiegelten Brief zu, den er persönlich übergeben soll, an einen Restaurantbesitzer in Bad Tölz. Als er den Adressaten, einen Mann im Alter seines Vaters, ausfindig gemacht hat, guckt der sich unwillkürlich um und bittet ihn dann in ein Hinterzimmer. Dort muss er ausführlich von zuhause berichten. Dann wird ihm ein Schnitzel gebracht. Während er isst, verschwindet der Wirt. Zum Abschied drückt er M41 einen unbeschrifteten, ebenfalls versiegelten Briefumschlag in die Hand. »Sie bringen ein wenig Zucht in den Laden, das gefällt mir«, sagt er, als er sich von dem jungen Mann in Leutnantsuniform mit einem markigen Händedruck verabschiedet: »Ganz der Vater. So soll es sein.« Genau, du mich auch, denkt M41 und lässt noch einen leisen Schnitzelfurz fahren, bevor er das Lokal verlässt.
Zu dieser Zeit ist schon klar, dass Einsi seinen Vater niemals
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