Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
Vom Netzwerk:
Weißwäscherin in der Kellerküche – sie alle sind ihm eine oft bis in die Einzelheiten von Kleidung und Mimik gehende Beschreibung wert. Nur Friedrich nicht.
    Natürlich kann Martin den Bruder nicht ganz beschweigen. Doch was er über ihn mitzuteilen hat, das lässt er meist andere sagen, vor allem die Großmutter. Sie ist auch das Subjekt der einzigen Passage, in der Friedrich wirklich zum Thema gemacht wird. Drei Sätze, mehr nicht, aber die laufen dem sonstigen Erzählton auffällig zuwider. Als hätte sich der Autor hier einer unangenehmen Pflicht entledigen wollen, eines Gegenstandes, den zwanghaft zu vergessen auf Dauer mühsamer wäre, als ihn einmal zu benennen und damit für immer zu erledigen . Mit Friedrich, der 5 Jahre jünger war als ich, schreibt er, gab es eh und je kein Auskommen. Es war direkt schrecklich, welches Misstrauen bei ihr – der Großmutter – immer wach wurde, wenn er irgendwo auftauchte. Gleich war dieses oder jenes nicht in Ordnung und die Jagd nach dem von vornherein für schuldig Angesehenen endete dort, wo sie enden musste – bei Friedrich! Das klingt, als wolle Martin seinen Bruder verteidigen. Doch ihm geht es um etwas anderes, um die Feststellung nämlich, dass er sich seine eigene Kindheit nur bis zu Friedrichs Geburt ungetrübtvorstellen kann. Die Zeit bis 1908, schreibt Martin in metaphorischer Verblümung, komme ihm vor wie ein fast unwahrscheinlicher Ausblick in einen sonnendurchhellten, paradiesischen Garten, während für die folgenden Jahren von Nebelschleiern die Rede ist und vom Schatten des Missverstehens, der über der Vegesacker Familie gelegen habe, schließlich gar von tobenden Gewittern und Stürmen der Leidenschaft. Was soll das heißen? Geht es wirklich nur um den ohnehin recht merkwürdigen Widerwillen der Großmutter gegen ihren dritten Enkel? Und regte der sich etwa schon gleich nach der Geburt? Gab es vielleicht zwischen den jugendlichen Brüdern Streit, von dem Martin lieber schweigt, ohne aber die Folgen unbenannt zu lassen? Oder werden hier der Erinnerung Stimmungen und Urteile untergeschoben, die sich erst viel später herausgebildet haben? Andererseits: Wer wüsste nicht, dass schon Kinder, nur weil sie so sind, wie sie sind, eine unüberwindbare Abneigung hervorrufen können? Und dass es kaum eine Form gibt, ein derart ungerechtes Gefühl zum Ausdruck zu bringen? Was immer später hinzugekommen sein mag, ganz unglaubwürdig ist es jedenfalls nicht, dass sich schon am jungen Friedrich die Geister schieden.
    Am alten Friedrich schieden sie sich ganz gewiss.
    Als ich ein Junge war, wusste ich das noch nicht. Ich wusste nur, dass mein Großvater – anders als mein Opa – mir nichts zu bieten hatte. Sicher lag das auch daran, dass wir uns nicht in seiner Welt begegneten. Hätte er noch auf dem Land gelebt, wären wir vielleicht im Wald Freunde geworden. Er hätte mir zeigen können, wie man eine Kreuzotter mit dem Spaten erlegt: indianerartig, ganz ruhig, und dann direkt hinter dem Kopf. Ich hätte ihn fragen können, ob es möglich ist,sich nur von Kräutern zu ernähren, und falls ja, wie lange und von welchen. Vielleicht hätte er mir auch auf eine Weise von früher erzählt, die mehr von ihm preisgegeben hätte als sein unwandelbares Repertoire an Heldengeschichten. So wie damals dem siebenjährigen M42, als der ihn auf einem Gang durch die Heide gefragt hatte, wer denn den Krieg, von dem manchmal sonntags nach dem Mittagessen so äußerst spannend die Rede war, eigentlich gewonnen habe. Der Vater lächelte kurz, so wie sein Sohn es noch nie gesehen hatte, dann spannte sich sein muskulöser Körper, er sprang in die Höhe und ergriff einen Birkenzweig. Als er die erbeuteten Blätter langsam mit seinen Fingern zerteilte, sah er zu Boden.
    »Leider nicht wir«, sagte er.
    Aber Großvater lebte nicht mehr in der Heide. Er wohnte wieder in Vegesack, im Haus seiner Eltern. Dass er eigentlich woanders sein wollte, hätte ich mir damals nicht vorstellen können. Ich merkte nur, dass er mit seiner Umgebung nichts anzufangen wusste. Wie viele Männer seines Alters existierte er im Ruhestand wie ein Findling nach der Eiszeit. Er war einfach da. Nichts gab es, und sei es noch so klein, was ihn angezogen, worauf er sich zubewegt hätte. Sein gesamtes geistiges Kapital war von einem schwarzen Loch geschluckt worden, in das er vor vielen Jahren investiert hatte. Freunde hatte er nicht. Und der ehelichen Arbeitsteilung gemäß oblagen ihm nur die Arbeiten

Weitere Kostenlose Bücher