Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
außerhalb des Hauses. Die allerdings erledigte er mit fast zeremoniellem Bedacht. Der Durchbruch an der Somme konnte kaum mehr Aufwand verlangt haben als der Weg zum Reformhaus oder zur Apotheke. Nachdem er den Einkaufszettel auf das rechte Format – aus dem beschrifteten Stück Papierrolle war ein Notizblatt geworden – gebracht, sein schwarzes Portemonnaie mit einerschweren Scherenbewegung in die hintere Hosentasche gesteckt und seine Wetterjacke angelegt hatte, nahm Großmutter sein Gesicht in beide Hände, zog es zu sich hinunter und gab ihm einen ziemlich dicken Kuss. Er mochte 1940 noch etwas inniger gewesen sein, aber auch die Eroberung von Werlandbrot erforderte einen Abschied.
Im Frühling schnitt er die Zweige, im Herbst harkte er das Laub. Einmal fand er dabei inmitten welker Kastanienblätter den Ehering wieder, den Großmutter im Sommer verloren hatte. Ich habe sie kein zweites Mal so wach und glücklich erlebt wie in dem Moment, als sie mir von diesem Wunder erzählte. Wenn Großvater, für mein Gefühl eher einer Pflicht als einer Neigung gehorchend, mit mir etwas unternehmen wollte, dann forderte er mich auf, meine Jacke anzuziehen. Wir gingen die Weserstraße hinunter. Er tat geheimnisvoll, ich tat gespannt. Dabei war mir klar, dass wir hinter der Strandlust, dem großen Hotel mit Flussblick, in dem meine Eltern ihre Hochzeit gefeiert hatten, die Fähre betreten würden. Er würde aus seiner Hosentasche das Portemonnaie und aus diesem zwei Zehnerkarten herausziehen, vier Stück abreißen, je zwei grüne für Kinder, zwei rote für Erwachsene (oder war es umgekehrt?), um sie dem Fährmann zur Entwertung zu reichen. Dann würden wir ans niedersächsische Ufer fahren, ohne es zu betreten. Und wieder zurück. Schweigend. Manchmal würde Großvater in der Mitte des Flusses auf den Turm des Hauses zeigen, manchmal nicht.
Auf der gepflegten Rasenfläche zu Füßen des Turms spielte er mit seinen Enkeln zuweilen Krocket, eine unfassbar öde Angelegenheit, eine der schlimmsten Hinterlassenschaften des britischen Weltreichs. Ein einziges Mal konnte ich ihn überreden, sich auf den schönsten, von ihm sonst verachtetenenglischen Kulturexport einzulassen und mir einen Ball aufs Tor zu schießen. Er tat es so ungelenk, dass ich nicht wusste, wofür ich mich mehr schämen sollte, mein Drängen oder sein Unvermögen. Trotzdem, die wenigen Gelegenheiten, bei denen ich an Großvater so etwas wie innere Anteilnahme erlebte, ergaben sich im Garten, in dem langen, schmalen Streifen abschüssigen Landes zwischen der Villa und dem Fluss. Meistens geschah das an Ostern. Das Verstecken der Schokoladeneier etwa muss ihm wirklich Spaß bereitet haben. Wie ein Feldherr stand er auf der steilen Eichentreppe und sah hinab auf das hektische Durcheinander, das seine Enkel da wie auf einer großen Bühne veranstalteten. Mit sicherem Gespür hatte er Orte ausgesucht, an denen die bunten Stanniolfolien in der natürlichen Umgebung aus Blumen und blühenden Sträuchern vollkommen getarnt waren. Es half nichts, wer nicht mit leerem Korb zurück ins Haus wollte, der musste sich schmutzig machen. Dass unsere Mütter schimpfen könnten, weil wir in der feuchten Erde herumgekrochen waren, schien er nicht bedacht zu haben, oder es war ihm egal. Vielleicht freute es ihn sogar. Wir strengten uns an, weil es ihm gefiel, das gab es sonst nie.
Doch der Höhepunkt des Osterfestes fand im unteren Teil des Gartens statt. Abends, wenn die Weser in der Dunkelheit versunken war, entzündete Großvater hier zwischen den Pflaumenbäumen einen sorgfältig aufgetürmten Berg aus Laub, Reisig und Ästen. Das war weniger spektakulär als die riesigen Osterfeuer auf freier Flur, die ich von zuhause kannte, zwischen den flackernden Umrissen der kahlen Zweige war es sogar ein wenig unheimlich. Aber Feuer ist Feuer, und auch, dass Ostern angeblich nur eine weitere »Jahreswende« war, nahm ich gerne hin. Einmal kam die Vegesacker Feuerwehrund machte dem unangemeldeten Spektakel ein Ende. Großvater protestierte schwach und fügte sich. Zurück im Haus, erwähnte er das Vorkommnis mit keinem Wort. Aber mir schien, dass er den ganzen Abend an nichts anderes mehr denken konnte und dabei irgendetwas aus tiefer Seele hasste, so elementar und unversöhnlich wie sein Sonnenwendfeuer das städtische Löschwasser.
Auch drinnen schien er sich erst wohl zu fühlen, wenn die Nacht den Standort des Hauses verhüllte. Wenn die Räume der Einbildungskraft sich
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