Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
öffneten. Wenn gesungen oder einer der Bildbände hervorgeholt wurde, in denen Zeichnungen eine abendliche Stimmung über frisch gepflügten Feldern heraufbeschworen oder Szenen aus dem Leben der sogenannten Waldbewohner zeigten, als wären Zwerge, Trolle und Feen so wirklich wie die Pilze, Moose und Beeren, zwischen denen sie sich angeblich aufhielten: äußerst scheu zwar, aber für den geduldigen Beobachter durchaus nicht unsichtbar. Was fühlte er, wenn wir sangen? Woran dachte er, wenn wir solche Bilder betrachteten? An die Nordlandfahrten mit den Pfadfindern? An die Zeit als Forstlehrling, die ihn nach Ahausen brachte? An die Sonnenaufgänge, die er dort zusammen mit seiner zukünftigen Frau erlebte? An die harte Arbeit im Wurzelwerk der Quecken, die ihm 1932 ein karges Brot einbrachte? An die noch härtere Waldarbeit, die 1950 nicht ausreichte, um seine Familie zu ernähren? Roch er wieder die Frühlingsausdünstungen der aufgewühlten lothringischen Erde, denen das Donnern der Artillerie nicht das Geringste anhaben konnte? Sah er die Landschaften von Aufstieg und Vernichtung an sich vorbeiziehen, ihre Gestalt wechselnd, als wären sie nur Seiten eines Buches: die Ebenen der Champagne, die Weinstöcke bei Metz, die Berge Sloweniens, dieendlosen Felder Brandenburgs, die hügeligen Wälder Böhmens? Oder starrte er wieder von seiner Pritsche auf das immer gleiche Stück fetten oberbayerischen Bodens, das er um jeden Preis mit dem braunen Sand der Lüneburger Heide vertauschen wollte?
Im ersten Teil seines Lebens sehnte mein Großvater sich nach der Zukunft. Dabei wühlte er kubikmeterweise Boden um. Im zweiten Teil seines Lebens erzählte er von der Vergangenheit, umgewühlter Boden spielte dabei eine zentrale Rolle. Die Herbsttage 1946, in denen er mit einigen Kameraden einen Tunnel unter ein amerikanisches Internierungslager grub, trennen die beiden Teile voneinander. Vielleicht standen sie deswegen auch im Mittelpunkt seiner Lebensgeschichte. Jedenfalls war die Erzählung mit dem Titel »Die Flucht« sein kostbarster Besitz. Mehr hatte er nicht zu geben, darum handhabte er sie mit äußerster Sorgfalt. Jahrelang hatte er sie geputzt und poliert. Dann zog er eine Mauer um sie herum und bewachte ihr Tor. Doch zugleich legte er Fährten zu ihrem Hintereingang. Er schützte sie inkonsequent, doch effektiv, wie einen Schatz, der ihm schon hundert Mal geraubt worden war. Seine Söhne hatten nicht genug davon kriegen können. Anders als all die anderen Geschichten war sie aber nicht an einfachen Sonntagen erzählt worden, sondern nur an hohen Festtagen und nur, wenn sie es verdient hatten. Als ich die Geschichte von Großvaters Flucht endlich zu hören bekam, stand ihre Form so fest wie ein liturgischer Text. Kein Wort, das nicht schon alle meine Onkels und Cousins an genau der gleichen Stelle gehört hatten, nach genau der gleichen Kunstpause, mit genau der gleichen Betonung.
Sobald ich ein »großer Junge« geworden war, hatte Großvater begonnen, mich mit Erzählungen geringeren Kalibersanzufüttern, und mir dabei das Gefühl gegeben, ich sei es, der etwas von ihm wolle. Oberflächlich betrachtet war es ja auch so. Er hatte nur ein einziges Mal, wie zufällig und kurz vor dem Aufbruch, ein lächerliches Abenteuerchen aus dem Frankreichfeldzug preisgeben müssen, und schlagartig war mein Interesse entzündet. Plötzlich verging kein Besuch mehr, ohne dass ich auf einen passenden Moment gelauert hätte, ihm eine Geschichte »vom Krieg« zu entlocken. Ich war der jüngste seiner männlichen Enkel und Neffen, weitere waren nicht zu erwarten. Vermutlich zum letzten Mal also begann nun ein Spiel, das er wie kein anderes beherrschte, ein Spiel, das ihm die Aufmerksamkeit und die Nähe eines Jungen verschaffte, dem er sonst nichts zu bieten hatte. Ein Spiel mit begrenzten Ressourcen. Er dosierte sie meisterhaft, indem er mich mit den vielen kleinen Geschichten auf die eine große Geschichte vorbereitete, Geschichten, in denen Piloten aus ihrem abgeschossenen Flugzeug kletterten, sich mit kalter Miene den Helm vom Kopf rissen und den Blick auf wallendes Frauenhaar freigaben, feste Männerstimmen auf die Frage »Wo zum Teufel ist Leo?« antworteten »Leo ist tot«, so wie sie bei anderer Gelegenheit sagten »auf Leo ist Verlass«, und ein Vorgesetzter namens »Ich« seinen Männern beibrachte, dass Mut bedeute, sich vor etwas zu fürchten und es dennoch zu tun. Als Leo alias Ich schließlich nur noch die Flucht blieb,
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