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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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Er findet das alles lachhaft. Und doch kommt es ihm manchmal so vor, als gelte die ganze Aufmerksamkeit für den Bruder eigentlich ihm. Als wäre sie ein stummer Vorwurf.
    Das Wort »Wald« dagegen löst in Friedrich Bilder von geheimnisvollen, durchaus zwiespältigen, aber unbedingt anziehenden Landschaften aus, die er nie gesehen hat und doch zu kennen meint, von versteckten Häuschen böser Hexen, verschrobenen Zwergen und guten Großmüttern, der tödlichen Quelle aus dem Nibelungenlied, den Bergen Thüringens. Es sind ahnungsvoll-begehrliche Gefühle des Mangels, die ihn vom Hochufer aufs Land, vom hellen Licht in die schattige Kühle, von der Dunkelheit zur nächsten Lichtung, von dort zurück in die Dunkelheit und wieder hinaus ins Freie treiben. Er meint, den Kampf der Gegensätze in sich zu spüren, ständig schlägt er sich von der einen auf die andere Seite, und nie ist er mehr bei sich und zuhause in der Welt als in den kurzen Momenten, in denen die Kämpfer einander müde in die Arme fallen. Wie in der sommerlichen Abenddämmerung, wenn der feuchte Duft von Harz und Moder sich mit den würzigen Ausdünstungen trocknenden Heus vermischt, während der Mond altrosa aus Schwarzgrün auftaucht. Da könnte er heulen vor innerer Fülle.
    Die Ausbildung bringt den Forstlehrling auch in die LüneburgerHeide. Als er im Frühjahr 1927 auf Gut Stellichte beim Grafen von Behr logiert, wird er Zeuge einer höchst anmutigen Szene. Die Schneidergesellin Trina Dodenhoff, eines von elf Kindern des Ahauser Hufschmieds, nimmt an den Töchtern des Gutshauses für einen Feststaat Maß. Nur ein Jahr jünger als Friedrich, fühlt sich die kleine Dorfschönheit von der Aufmerksamkeit des ansehnlichen Städters sehr geschmeichelt. Um das, was nun seinen Lauf nimmt, ranken sich in der Familie viele Legenden. Meine Großeltern, so heißt es, hätten sich über alle Maßen geliebt. Aber was bedeutet das? Versteht solche Liebe sich von selbst? Muss man sie hinnehmen wie ein gütiges Schicksal? Oder lässt sie sich erklären? Zumindest kann man über sie reden, ohne gleich die Augen zu verdrehen.
    Im Sinne einer gesteigerten Unwahrscheinlichkeit, die Friedrich und Trina zu Fremdkörpern in ihren Familien macht, ist diese Liebe jedenfalls sehr romantisch. Beide wissen schließlich genau, was sie zuhause erwartet. Die Eltern Dodenhoff haben ja nicht auf einen schwärmerischen Waldpfleger gehofft, sondern auf den Erben eines Hofs; außerdem sind sie kirchentreue Lutheraner, die städtischer Freigeisterei zutiefst misstrauen. Und was sollen Mutter Leo und Großmutter Lange zu einer Landpomeranze sagen, einer ungebildeten Person, für deren Benehmen man sich niemals verbürgen würde? So verloben sich die beiden, ohne auf den Rat der Eltern zu hören. Immerhin lassen sie sich das Zugeständnis abringen, erst zu heiraten, wenn Friedrich eine Familie ernähren kann. Als Forstlehrling kann er das nicht. Als Forstgehilfe ohne Anstellung auch nicht. Als Arbeitsloser in der Weltwirtschaftskrise erst recht nicht. Als Angestellter im Reichsnährstand dann schon.
    Dass Friedrich und Trina sich zunächst kaum flüssig unterhalten können, weil er ein gedehntes, hanseatisch »s-teiniges« Deutsch spricht, das sie nur aus Unterricht und Gottesdienst kennt, behindert ihre Nähe nicht. Im Gegenteil, als Beweis ihrer Unwahrscheinlichkeit fördert es sie sogar. Allerdings führt das dazu, dass sie zeitlebens eine quasi zweisprachige Beziehung führen werden. Damit sich ihre Seelen treffen, müssen sich ihre Münder aufeinander zubewegen. Sowohl das platte wie das hohe Deutsch bieten dazu Möglichkeiten. Wo Hochdeutsch Umgangssprache ist, im Grunde nur auf einigen städtischen Inseln zwischen Göttingen und Bremen, kann ein Landbewohner es kaum unbefangen sprechen. Als Schriftsprache lässt sich das Hochdeutsche aber vom Alltäglichen ins Festliche steigern. Und in der gehobenen Modulation des Predigers oder des Dichters klingt es auch für den Muttersprachler künstlich. Umgekehrt fällt, wer als Städter plattdeutsch spricht, unangenehm auf; mit etwas Übung kann man es aber problemlos verstehen. Vor allem kann man es singen. So werden erbauliche Literatur und Gesang zu den Mitteln, die zwischen Friedrich und Trina immer wieder aufs Neue die Nähe erzeugen müssen, die sich bei Liebenden sonst durch zwanglose Plauderei ergibt. Zwei markante Stimmlagen, die einander stützen und ergänzen, werden, für jeden Gast mit Händen zu greifen, die Atmosphäre

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