Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
ihres Haushalts prägen: der hohe Ton der protestantischen Predigt und das ziehende Moll des niederdeutschen Volkslieds.
Während die Liebenden sich aus Paul de Lagardes Deutschen Schriften vorlesen, verlieben sie sich in Stellen wie diese: Deutschland würde gegründet werden, indem wir gegen die jetzt gültigen, aus dem Vorhergehenden deutlich genug zu erkennenden Lasterersichtlich undeutsch beeinflusster Zeit uns verneinend verhielten, indem wir zur Abwehr und Bekämpfung dieser Laster einen offenen Bund schlössen, welcher der äußeren Kennzeichen und Symbole so wenig entbehren dürfte wie der strengsten Zucht, indem weiter jedes einzelne Glied dieses Bundes den treuherzigsten Haß gegen seine eigenen Fehler und eine bescheidene, scheue, aber warme Liebe für alles hegte, was ihm – ich sage nicht gut, sondern etwas anderes, wie mich deucht, völlig deutsches – was ihm echt zu sein schiene und sich als echt erprobe. Oft legen sie das Buch in den Sand und lassen den Blick über die Heide schweifen. Oder sie singen.
Dat du min Leevsten büst,
dat du woll weeß.
Kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht,
segg wo du heeßt.
Kumm du um Middernacht,
Kumm du Klock een.
Vader slöpt, Moder slöpt,
Ick slap alleen.
Klopp an de Kammerdör,
fat an de Klink.
Vader meent, Moder meent,
dat deit de Wind.
Im Sommer 1928 beendet Friedrich seine Ausbildung. Später hieß es immer: Er wäre gerne Förster geworden. Wenn er selbst aus seiner Vergangenheit erzählte, hätte man meinen können, er sei nichts als Soldat gewesen. Dass er die meiste Zeit seines Lebens in einer Schreibstube auf der Werft arbeitete,gab nicht nur keine Geschichten her, es hatte offenbar auch nichts mit einem Beruf zu tun. Im Standardwerk über das SS-Amt, das ihm ab 1939 sein Gehalt überwies, steht hinter seinem Namen aber nichts von alledem, sondern: Landwirt. Was war da passiert? Mit der Republik ging es zu Ende, das war passiert. Der Beruf des Försters war sowieso nie realistisch, zumindest in den Staatsforsten hätte er dazu ein Abitur benötigt. Aber auch die Forstgehilfenstellen sind so rar, dass Friedrich im Wald nicht unterkommt. Zwanzig Jahre alt, ist er plötzlich nichts mehr als ein in die Jahre kommender Pfadfinder. Was nun? Irgendwas mit Jugend vielleicht. In Blumenthal, einer Nachbargemeinde Vegesacks, findet er einen Praktikumsplatz beim Katasteramt, in dem ein launischer Stadtgott auch die Abteilung für lokale Jugendbelange untergebracht hat. 1929 wird über seine dauerhafte Beschäftigung entschieden. Friedrich wird später behaupten, er sei »aus politischen Gründen« nicht eingestellt worden. Aber was soll das heißen? Er gehört keiner Partei an, er agitiert nicht. Vermutlich hat er einfach seine Klappe nicht gehalten. Kaum ein Jahr ist es her, da sind in Nordwestdeutschland reihenweise Amtshäuser explodiert. Die Täter stammen aus dem Umkreis der Landvolkbewegung, eines lockeren Zusammenschlusses norddeutscher Bauern, die sich in ihrem Existenzkampf gegen steigende Abgaben und sinkende Preise – in den USA und Ostelbien wird billiger produziert – vom Staat im Stich gelassen fühlen. Seitdem fragt man sich hier etwas genauer, wem man die Schlüsselgewalt für ein Behördengebäude überlässt. Einem leicht entzündlichen Schwärmer, der vorhat, ins terroristische Unterstützermilieu einzuheiraten, wohl lieber nicht.
Wenn aber seine Liebe zu den Bauern ihm schon Wegeversperrt – liegt es da nicht nahe, selbst einer zu werden? Der Wille zum Wald entsprang der Sehnsucht nach einer Gegenwelt, dem Impuls, der Villa am Hochufer zu entfliehen. Aber die Stadtflucht hat sein Leben verändert. Was könnte das stärker belegen als die Verlobung mit einer Frau vom Land?
1930 waren die imperialistischen Phantasien der Landnahme noch sehr lebendig. Zumindest in Deutschland, wo niemand damit rechnete, dass die politischen Grenzen und Verbote, die 1919 in Versailles festgelegt worden waren, auf Dauer bestehen würden; wo der Erste Weltkrieg den Traum vom Weltreich mächtig befeuert hatte; wo Karl Mays Geschichten aus dem Wilden Westen auch als Gebrauchsanweisungen für die vermeintliche Wildnis im Osten gelesen wurden. Wenn sich Friedrich also entschließt, mit einigen seiner Pfadfinder und anderen Gleichgesinnten in der Nähe Bremens kleine »Quecken« für die Gemüseanpflanzung urbar zu machen, dann ist das mehr als nur ein Rückzug in eine Nische, die notdürftig Schutz vor der Massenarbeitslosigkeit bietet. Es ist auch ein
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