Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
an eine Operettenkulisse.
Es ist kein Zufall, dass Klages viele Graphologinnen ausbildete. Er mochte die Frauen, weil er sie für das gefühlsbegabtere und eindrucksempfindlichere Geschlecht hielt. Seine eigene Wissenschaft, die gegen technische Zweckrationalität polemisierte, empfand er als weiblich. Aber er wäre kein Mann seiner Zeit gewesen, wenn er nicht die Verschmelzung von Verstand und Gefühl im großen Denker, kurz: sich selbst als höchste Zierde der Menschheit betrachtet hätte. Jedenfalls war »sensibel« für ihn kein Schimpfwort. Er hielt Zartsinn eben nicht für das Gegenteil, sondern für das Fundament des Denkens. Ist das einmal gesagt, wird man verstehen, dass nicht nur Friedrich sich für Klages’ Graphologie begeistern konnte.
Auch Martin besaß nämlich das Buch.
Im Herbst 1921 werden einige Zimmer des großen Hauses in der Weserstraße an eine junge Lehrerin vermietet. Martin freundet sich mit ihr an, auch weil sie ihm manche Ablenkung von seiner Nachkriegsschwermut und von der Abiturvorbereitung bietet, rein geistiger Natur versteht sich. Sie regte mich dazu an , schreibt er, von Zeit zu Zeit ihr Geigenspiel auf dem Klavier zu begleiten und mich für Handschriften-Analyse nach dem Buche von Ludwig Klages »Handschrift und Charakter« zu interessieren,was ihrem Wesen sehr entsprach und oft Gelegenheit zu Aussprachen über die Verschiedenheit von menschlichen Charakteren gab. Offensichtlich ist Martins Interesse an der Graphologie kontemplativer Natur. Eine Faszination, ein Buch, eine verwandte Seele, eine musische Atmosphäre, mehr braucht es nicht, um aus der Mannigfaltigkeit der Menschen und Schriften ein um sich selbst kreisendes Gespräch zu spinnen. Es bleibt allerdings Episode. Die geistesgeschichtliche Tiefe der deutschen Ausdruckswissenschaft wird Martin verborgen bleiben. Doch muss man überhaupt ergründen, was man schon in sich hat? Wenn Goethe Bilder und Nachbilder, farbige Schatten und leuchtenden Schnee beobachtete oder Klages das Bewegungsbild einer Handschrift, taten sie dann nicht das Gleiche wie Martin, wenn er vom Turm in die Welt sah? Mochten es hier Schiffe, Werften und Osterfeuer, dort Farberscheinungen oder Briefe sein – die Besonderheit lag ja nicht im Gegenstand, sondern im Betrachter. Nicht um Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen , so umschrieb Goethe seinen Forschungsansatz. Und auf seine Art sah auch Martin in die Welt, lange bevor er sich Goethe ausdrücklich zum Vorbild nahm. Technisch gesprochen, setzt die goethesche Betrachtungsart den Betrachter ins rechte räumliche Verhältnis zum Betrachteten. Das eindrucksempfindliche Auge muss sich auf genau den Abstand bringen, in dem eine Erscheinung zu sprechen beginnt. Im Fall eines mächtigen Schlachtschiffs mag das die Sichtweite bei Regen sein, im Fall eines Säugetiers mittlerer Größe die Hörweite eines Schluckgeräuschs, im Fall einer Handschrift die Reichweite des angewinkelten Arms. Bei einem Wunderwerk der Mechanik, das Martin als Kind bestaunt hatte, war die ideale Entfernung ein Katzensprung.
In Vegesack im Staate Bremen gab es, wie vielerorts im Deutschen Reich, eine sogenannte fünfte Jahreszeit, in der die Stadt von einem Volksfest beherrscht wurde. In unmittelbarer Nähe des Hauses, dort wo auf Höhe des Hotels Bellevue die Breite Straße auf die Weserstraße traf, baute der Schausteller Heinrich Dralle jedes Jahr am ersten Wochenende im September ein Karussell auf. Täglich putzte seine Frau die vom runden Dach herabhängenden Petroleumlampen. Wie alle anderen Kinder warf Martin das Marktgeld, das der Vater ihm und Heinz auf den Pfennig genau ausgezahlt hatte, nicht ins Sparschwein. Doch es sind nicht die Fahrten auf dem Karussell oder der Achterbahn, nicht Blasmusik und Laufballons, Zündplättchen und Knallkorken, Schmalznudeln und türkischer Honig, die er in den Mittelpunkt seines Berichts vom Vegesacker Markt stellt. Es ist eine Stimmung. Ein Ereignis, das nur stattfinden konnte, weil er gelernt hat, selbst im Getümmel der Begehrlichkeiten aufmerksam zu bleiben. Was tut der kaum zehnjährige Junge? Er lässt sich von einem Karussell bewegen – während er neben ihm steht.
Eigentlich hat der gemütliche Teil des Samstags schon begonnen. Vor einer Stunde sind Martin und Heinz vom Markt zurückgekehrt. Gerade spielen sie mit der Großmutter die dritte Runde Poch, in der Küche wird schon das Abendbrot zubereitet, als Martin beim Blick aus dem Fenster
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